Spaltung der Klasse zementiert: Sonderwirtschaftszone Ost

Vollzeit für Niedriglohn

Der Arbeitsmarkt ist stabil. Dies ist die zentrale Botschaft der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu Jahresbeginn. Der in den 2000er Jahren durch die „rot-grüne“ Bundesregierung etablierte Niedriglohnsektor ist es auch. Trotz seit 2011 leicht rückläufiger Zahlen sind bundesweit immer noch 18,7 Prozent der Vollzeitbeschäftigten Geringverdiener. Dies hat eine Anfang Januar veröffentlichte Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung belegt. Als Geringverdiener werden in der Studie, in Anlehnung an die Definition der BA, Beschäftigte bezeichnet, die im sogenannten „unteren Entgeltbereich“ ihre Arbeitskraft für weniger als zwei Drittel des mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten verkaufen müssen. Für den Untersuchungszeitraum entspricht dies einem monatlichen Einkommen von weniger als 2.284 Euro brutto. Die Größe des Niedriglohnsegments ist in Abhängigkeit von Region, Branche, Qualifikation und Geschlecht sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Ergebnisse der WSI-Studie machen so die tiefe Spaltung des Arbeitsmarktes in tarifgebundene und mitbestimmte Arbeit einerseits und prekäre Beschäftigungsverhältnisse andererseits deutlich, die die Spaltung der arbeitenden Klasse zementiert.

Ostdeutschland bleibt seit den politischen und ökonomischen Umwälzungen 1989/90 eine Sonderwirtschaftszone und neoliberales Experimentierfeld. Zwar nahm dort die absolute Zahl der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich seit 2011 um gut 320.000 ab. Zeitgleich stieg diese im Westen um mehr als 200.000 Personen an. Dennoch bleibt Arbeit im Niedriglohnbereich zwischen Eisenach und Frankfurt/Oder ein deutlich häufigeres Phänomen kapitalistischer Ausbeutung als in der Alt-BRD. Quoten von mehr als 30 Prozent sind in vielen ostdeutschen Landkreisen und Städten immer noch an der Tagesordnung. Im Erzgebirgskreis, dem Saale-Orla Kreis oder in Görlitz liegen diese sogar deutlich über 40 Prozent. In Wolfsburg oder Erlangen hingegen arbeiten nur 6,4 beziehungsweise 8,3 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich. Aber auch in ländlichen Regionen im Westen, in denen es vor allem Kleinbetriebe und wenig Industrie gibt, ist Vollzeitarbeit im unteren Entgeltbereich verbreitet, wenn auch nicht ganz so stark wie im Osten.

Überdurchschnittlich häufig betroffen von Arbeit im unteren Lohnsegment sind Frauen und junge Vollzeitbeschäftigte sowie Kolleginnen und Kollegen ohne deutschen Pass oder Berufsabschluss. Auch die Branche, in der die Kolleginnen und Kollegen arbeiten, spielt hier eine zentrale Rolle. Im Gastgewerbe (68,9 Prozent), in Leiharbeit (67,9 Prozent) und Land- und Forstwirtschaft (52,7 Prozent) arbeiten mehr als die Hälfte der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich. Deutlich überdurchschnittliche Anteile weisen unter anderem auch der Bereich „Kunst und Unterhaltung“ sowie private Haushalte (33,2 Prozent), die Logistik (28,3 Prozent) oder der Handel (24,9 Prozent) auf. Im verarbeitenden Gewerbe insgesamt sind 11,5 Prozent der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich beschäftigt. In der traditionell gewerkschaftlich gut organisierten Metall- und Elektroindustrie sind es hingegen „nur“ 7,6 Prozent.

Die vom WSI beschriebene Spaltung am Arbeitsmarkt zwischen gut bezahlter, sicherer Arbeit und prekärer Arbeit in Lohnarmut wird ausgerechnet durch eine Studie der „Arbeitgeber“-nahen Bertelsmann-Stiftung untermauert. Diese hatte Ende 2021 auf die hohe Anzahl von „Aufstockern“ aufmerksam gemacht, also Beschäftigte, die trotz Arbeit auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind. Bundesweit betrifft dies 860.000 Kolleginnen und Kollegen. Der DGB hat völlig zu Recht das massenhafte Phänomen, dass Arbeit nicht vor Armut schützt, als einen der größten sozialpolitischen Skandale unserer Zeit bezeichnet. Ein noch größerer Skandal ist, dass die Kapitalseite die Hungerlöhne ihrer Beschäftigten seit Jahren mittels Aufstockung, also dem Griff in die Sozialkassen, von der Allgemeinheit finanzieren lässt.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Vollzeit für Niedriglohn", UZ vom 14. Januar 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit