In Brasilien formiert sich breiter Widerstand gegen die Offensive der Reaktion

Volk ohne Angst

Von Maria Galvão und António Veiga

Eine entschlossene junge Brasilianerin ruft ins Mikro: „Hier ist das Volk ohne Angst – ohne Angst zu kämpfen!“ und die Masse der Demonstrantinnen und Demonstranten antwortet ihr mit derselben Entschlossenheit. Die Videoaufnahmen zeigen die Demonstration des Bündnisses „Volk ohne Angst“ (Povo sem Medo) unter Beteiligung der Obdachlosenbewegung (MTST), der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCB) und einiger Gewerkschaftsverbände in São Paulo am vergangenen Donnerstag. Mindestens 30 000 Menschen waren dem Aufruf des Bündnisses allein in São Paulo gefolgt, weitere Demonstrationen fanden gleichzeitig überall im Land statt. Sie sind auch, aber nicht nur eine Reaktion auf die seit der knappen Wiederwahl der Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) im Oktober 2014 stattfindende Offensive der reaktionärsten Kräfte des Landes, die mit dem Verhör des Expräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (PT) ihren vorläufigen Höhepunkt angenommen hat.

Die aktuelle politische Lage in Brasilien ist das Ergebnis einer Wirtschaftskrise, die spätestens Ende 2014 manifest wurde. Das Wirtschaftswachstum ging drastisch zurück, und der brasilianische Staatshaushalt rutschte ins größte Defizit seit fast zwei Jahrzehnten, was das Misstrauen des Finanzmarktes verstärkte. Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit schlug Rousseff unter dem Titel „Ajuste Fiscal“ (Haushaltsanpassung) Sparmaßnahmen vor, die erhebliche Kürzungen bei den staatlichen Sozialausgaben, beim Arbeitslosengeld, beim Krankengeld und den Renten mit sich brachte. Im laufenden Jahr plant die Regierung zudem eine Reform des Sozialversicherungssystems, die eine Erhöhung des Renteneintrittsalters vorsieht. Zuletzt unterzeichnete Rousseff ein umstrittenes „Anti-Terror-Gesetz“, das Aktivistinnen und Aktivisten aus den sozialen Bewegungen mit 12 bis 30 Jahren Gefängnis bedroht.

Eine Vertreterin des Bündnisses „Povo sem Medo“ lässt daher keinen Zweifel an der Botschaft der Demonstration vom 24. März: „Heute ist das Volk ohne Angst auf die Straße gegangen – eine große Demonstration zur Verteidigung der Demokratie. Unsere Demonstration hat sowohl den Putschisten einen Denkzettel verpasst als auch der Regierung, die nicht im Interesse der Arbeiter regiert.“ Offensichtlich meint das Bündnis mit „Verteidigung der Demokratie“ nicht einfach die Verteidigung des parlamentarischen Systems und der Regierung, sondern vielmehr die Verteidigung der erkämpften sozialen Rechte der Bevölkerung, die schon länger unter Beschuss stehen.

Die oben beschriebenen Maßnahmen sind nur einige Beispiele für die Orientierung, die die Regierung der PT seit ihrem Wahlsieg von 2003 charakterisiert. Waren auf der einen Seite die beiden Amtsperioden von Lula da Silva noch von sozialen Maßnahmen wie der Umverteilung eines Teils der Staatseinnahmen zu Gunsten der ärmsten Teile der Bevölkerung geprägt, so tastete seine Regierung auf der anderen Seite die Privilegien und Interessen der nationalen Eliten und der Monopole nicht an. Dennoch wird in der aktuellen Situation deutlich, dass alle Zugeständnisse an das Kapital nicht genügten. In Reaktion auf die durch die Krise von 2014 verursachte Rezession begann ein Teil der wirtschaftlichen und politischen Elite Druck auf die Regierung auszuüben, um sie dazu zu zwingen, den privaten Sektor noch stärker zu begünstigen. Dies hätte zum vollständigen Bruch zwischen der Spitze der PT und ihrer sozialen Massenbasis in den Gewerkschaften und der Landlosenbewegung geführt, weshalb Rousseff sich diesen Forderungen nicht vollständig beugen konnte.

Was bedeutet es, die Demokratie zu verteidigen?

Seither gehen Teile der Mittel- und Oberschicht unter Ausnutzung der allgemeinen Unzufriedenheit auf die Straße und fordern die Amtsenthebung von Rousseff. Ihre Demonstrationen appellieren an rassistische und faschistische Gefühle und stellen den scheinbaren wirtschaftlichen Aufstieg der Ärmsten und die sozialdemokratische Politik als eine „kommunistische“ Gefahr für die Nation dar. Demonstranten fordern zum Teil offen eine Militärintervention, die die „Ordnung“ im Land wieder herstellen soll. Die reaktionärsten Teile der brasilianischen Eliten nutzen diese rechte Massenbewegung zur Sicherung ihrer eigenen Hegemonie und zur Verstärkung des Drucks auf die Regierung.

Vor diesem Hintergrund werden die jüngsten Korruptionsskandale gegen Abgeordnete der PT zur großen öffentlichen Show gemacht. Mit großen Teilen der Medien und wichtigen Bereichen des Justizapparats auf seiner Seite verschärft nun das reaktionärste Lager seine Kampagne gegen die PT. Sie zielen dabei besonders auf Lula da Silva, der als die Personifikation des „Unmoralischen“ dargestellt wird, um damit die populärste Figur der PT öffentlich zu diskreditieren und eine Wiederwahl 2018 zu verhindern.

Neben dem oben genannten Bündnis „Povo sem Medo“ mobilisiert ein weiteres Bündnis „Frente Brasil Popular“ gegen die Offensive der Reaktion. Massiv unterstützt durch die PT, hatte es am 18. März zu Demonstrationen im ganzen Land aufgerufen, und Hunderttausende waren dem Ruf gefolgt. Im Unterschied jedoch zum Bündnis „Povo sem Medo“ bedeutet hier die „Verteidigung der Demokratie“ letztlich die Verteidigung der aktuellen Regierung. Die Kritik, die aus dem Bündnis an der PT-Regierung geäußert wird, ist halbherzig und schürt die Illusionen, dass die bürgerliche Regierung unter Lula da Silva und Dilma Rousseff konsequent im Interesse des Volkes handeln könnte. Trotz dieser Widersprüche mobilisieren beide Bündnisse mit drei klar definierten, gemeinsamen Forderungen auf eine Großdemonstration in Brasília am 31. März: Gegen den Putschversuch, gegen die „Haushaltsanpassung“ und gegen die Rentenreform.

Das war ein Denkzettel für die Putschisten und für die Regierung.

Das Bündnis „Povo sem Medo“ und die von ihr organisierten Demonstrationen und Kundgebungen sind ein Schritt in Richtung einer breiten, klassenkämpferischen Bewegung von unten. So führte die Demonstration in São Paulo am Ende direkt vor den Sitz des größten Medienmonopols Brasiliens, der „Rede Globo“: Als Sprachrohr der Reaktion leistet es einen wesentlichen Beitrag zur weiteren rassistischen und faschistischen Aufhetzung der enttäuschten Mittelschichten. Immer wieder hört man deshalb auf der Demonstration die Parole: „Das Volk ist nicht dumm – nieder mit Rede Globo!“ In der Abschlussrede fordert ein Sprecher die Demonstrantinnen und Demonstranten mit Nachdruck auf, dem Medienmonopol und damit den brasilianischen Eliten eine klare Nachricht zu hinterlassen: „Der Putsch wird nicht voran kommen, denn es wird Widerstand geben!“

Maria Galvão und António Veiga

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"Volk ohne Angst", UZ vom 1. April 2016



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