Beim Thema Gaza mäandert die Berlinale zwischen Staatsräson und Wahrheit. Presse und Politik eskalieren

Völkermord im Tiny House

Im Vorfeld der Berlinale-Eröffnung hat es viel Aufregung vor allem um ein Thema gegeben. Werden AfD-Abgeordnete eingeladen? Ja? Nein? Vielleicht? Passend zum Händchenhalten allerorts wurde dann auch der rote Teppich bei der Eröffnungsgala zum Ort von Anti-AfD-Protesten, natürlich vom Festival selbst organisiert. Nachdem sie die AfD-Abgeordneten erst ein- und dann wieder ausgeladen hatten, rühmte sich die Festivalleitung in einem Statement: „Mit der Ablehnung der AfD hat sich die Berlinale klar gegen den Rechtsextremismus in Deutschland positioniert.“ „Im Geiste der Solidarität“ solle diese Berlinale laut Mariette Rissenbeek und dem Künstlerischen Leiter Carlo Chatrian sein. Mit wem man so solidarisch sein darf und soll, dass ist allerdings eine andere Sache.

Beherrschendes politisches Thema der Berlinale ist – auch wenn das in die hiesigen Medien erst mit der Empörung über die Preisverleihung am vergangenen Samstag Eingang fand – der Krieg gegen Gaza. Den Opfern aller „humanitären Krisen“ sprachen Rissenbeek und Chatrian ihr „tiefes Mitgefühl“ aus – angesichts des Wütens Israels in Gaza mit bisher mehr als 29.700 Toten ein mehr als merkwürdiges Statement zur Eröffnung eines Filmfestivals. „Wir möchten, dass das Leid aller wahrgenommen wird und mit unserem Programm verschiedene Perspektiven auf die Komplexität der Welt eröffnen“, heißt es in dem Statement der Berlinale-Direktoren weiter. Dagegen protestieren Berlinale-Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen von Programmauswahl bis Kinomanagement mit einem Offenen Brief. „Wir sind uns der unerträglichen Dynamik der institutionellen Trägheit im Kulturbereich in Deutschland schmerzlich bewusst und erkennen die derzeitigen Beschränkungen der Meinungsäußerung an. Wir wollen an das Festival und an uns selbst einen höheren Anspruch stellen. Eine internationale Plattform wie die Berlinale und wir in unseren Rollen als Programmgestalter, Berater, Moderatoren, Vermittler und Raumhalter sowie weitere Berlinale-Mitarbeiter können und sollten unseren Unmut über die derzeitigen Angriffe auf palästinensisches Leben zum Ausdruck bringen“, heißt es darin.

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner fordern einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln. Sie erkennen an, dass es im Rahmen der Berlinale zwar vereinzelte und kleinere Versuche gebe, Raum für Austausch zu schaffen, halten dies aber für unzureichend: „Da die Welt Zeuge eines unvorstellbaren Verlustes an zivilem Leben in Gaza wird – einschließlich derer von Journalisten, Künstlern und Filmschaffenden – sowie der Zerstörung von einzigartigem kulturellem Erbe, brauchen wir eine stärkere institutionelle Positionierung. Wir erwarten, dass das Festival eine Haltung einnimmt, die im Einklang mit den Reaktionen auf andere Ereignisse steht, die die internationale Gemeinschaft in den letzten Jahren erschüttert haben.“ Das ohrenbetäubende Schweigen zu dem Völkermord in Palästina wird sicherlich nicht mit den „kleinen Versuchen“ der Berlinale beendet.

Zu den Versuchen gehört das „TinyHouse-Projekt“ von Shai Hoffmann, das vom 17. bis zum 19. Februar auf dem Potsdamer Platz gastierte. Darin sollten sich unter dem Motto „Über Israel und Palästina sprechen“ Expertinnen und Experten vor und mit Publikum darüber Gedanken machen, „wie das Denken, Sprechen und Debattieren über Israel und Palästina aus deutscher Perspektive konstruktiver gestaltet werden kann“. Dabei aufgenommen wurde ein Podcast mit den Gästen Gil Shohat, Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ahmad Dakhnous, Mitbegründer der Initiative „Connect! Syrian Diaspora“ und Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wenigstens Ahmad Dakhnous ist dabei palästinensische Stimme.

Die Stimme Palästinas war an weiteren Stellen des Festivals mal lauter, mal leiser zu hören. Deba Hekmat, Darstellerin des Coming-of-age-Dramas „Last Swim“ (siehe UZ vom 23. Februar), trug auf dem roten Teppich Kufiya, wie auch viele Besucherinnen und Besucher der Vorstellungen von „No other Land“. In dem Doku-Film von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor geht es um die Auslöschung palästinensischer Dörfer auf der Westbank. Basel Adra erlebt seit seiner Kindheit die israelische Besatzung und dokumentiert, wie israelische Soldaten Häuser abreißen und Bewohner vertreiben. Er begegnet dem israelischen Journalisten Yuval Abraham, in dem er einen Verbündeten findet.

Berlinale-Besucher zeigten sich nach dem Film erschüttert über die unfassbare und doch alltägliche Gewalt, die die israelische Armee auf der Westbank ausübt. Die „Deutsche Presseagentur“ hat in ihrer Meldung über die Premiere vor allem für eins Empörung: Von einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern wurde nach dem Film „Free Palastine“ gerufen.

Das dicke Ende aus Sicht von Presse und Politik kam aber mit der Verleihung der Preise. Die „verkam zu einer propalästinensischen Solikundgebung“ (Tagesspiegel), „beklemmend“ (FAZ) sei der Jubel des Publikums gewesen. Die Solidarität, in deren Geiste die Berlinale stattfinden sollte, hat offenbar den falschen gegolten.

Mehrere Preisträgerinnen und Preisträger hatten sich für die Bühne mit Zetteln bewaffnet, auf denen sie einen sofortigen Waffenstillstand forderten (Ceasefire now!) und dann wagten es andere auch noch, sich in die deutsche Politik einzumischen. Es sei für ihn schwer, den Preis zu feiern, während „zehntausende Menschen in Gaza geschlachtet werden“, sagte Basel Adra, der mit seinen Kollegen für „No Other Land“ den Dokumentarfilmpreis bekam – und forderte Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Ben Russell, Ko-Regisseur des ebenfalls ausgezeichneten Films „Direct Action“, betrat die Bühne mit Kufiya und stellte klar: „Natürlich stehen auch wir hier für das Leben und wir stehen gegen den Genozid und für einen Waffenstillstand.“ „Preis sofort aberkennen“ schmettert der gescheiterte Grünen-Politiker C. Storch gleich auf Twitter.

„I stand in solidarity with Palestine“ endete Mati Diop, die Gewinnerin des Goldenen Bären, ihre Dankesrede.

Das war für Medien und Politik zu viel. Anstatt, während die gesamte Welt zuschaut, wenigstens ein kleines bisschen Contenance zu wahren und zu akzeptieren, dass internationale Filmschaffende keine deutsche verordnete Meinung reproduzieren, erbrach man sich in einem Sturm der Entrüstung. Konstantin von Notz (Grüne) unterstellte der Kritik an knapp 30.000 getöteten Palästinensern eine „perfide Täter-Opfer-Umkehr“, Berlins Bürgermeister Kai Wegner hielt es für eine „untragbare Relativierung“. Berlins Kultursenator, gerade grandios mit einer rechtlich nicht haltbaren Gesinnungsprüfung für Künstler gescheitert, fand, dass der Abend geprägt war „von selbstgerechter antiisraelischer Propaganda, die nicht auf die Bühnen Berlins gehört“. Kulturstaatsministerin Claudia Roth will „aufarbeiten“ – auch weil niemand die Hamas benannt habe. „So bei einem internationalen Filmfestival aufzutreten, hilft niemandem, ganz bestimmt auch nicht der Zivilbevölkerung im Gaza.“ Inhaltlich hatte von den Empörten niemand etwas zum Krieg gegen Gaza zu sagen. Man steht gefälligst an der Seite Israels, wenn man in Deutschland einen Filmpreis bekommt.

Die Verteidigung der Demokratie findet nur auf dem roten Teppich und gegen die AfD statt. Ansonsten ist Meinungsfreiheit unerwünscht. Zu verhindern ist sie aber dummerweise nicht immer. Die Leitung der Berlinale, die sich zerknirscht von den Aussagen der Preisträger distanzierte, teilte laut dpa mit, „dass Meinungsäußerungen bei Kulturveranstaltungen nicht grundsätzlich verhindert werden könnten“. Das „und sollten“ am Ende des Satzes erscheint kleinlaut.

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"Völkermord im Tiny House", UZ vom 1. März 2024



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