Auch bei vielen, die vor 50 Jahren gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen, wird Vietnam heute wohl in erster Linie als Reiseland oder als Billiglohn-Standort wahrgenommen, in dem die Ideen des Neoliberalismus in grober Form ihren Triumph feiern. Und nicht wenige werfen Vietnam zum Beispiel in Diskussionen in den sozialen Medien vor, durch die Zulassung privater Produktionsmittel in großem Umfang den Sozialismus zu verraten.
1975: Startbedingungen, die schwerer nicht sein konnten
Als Vietnam 1975 mit dem Ende des Befreiungskrieges seine Unabhängigkeit und ein Jahr später seine Wiedervereinigung errungen hatte, stand das Land vor fast unüberwindbaren Problemen. Nahezu alle Infrastrukturen im Verkehr (Straßen, Eisenbahnen, Brücken), im Gesundheitswesen und in der Industrie waren total zerstört. Das Land bekam von denen, die den Krieg geführt und verloren hatten, keine Wiederaufbauhilfe, obwohl dies zugesichert worden war. Bis Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts litt das Land zudem unter einem politisch gewollten Boykott der westlichen reichen Länder. Sozialismus hieß für die Regierung Vietnams in erster Linie, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Da ging es um Bereitstellung von Strom, genügend Lebensmitteln, Medikamenten, Fahrrädern und Mopeds, um zur Arbeit zu gelangen. Ohne die tiefgreifende und anhaltende Hilfe der sozialistischen Staaten wäre dies nie möglich gewesen.
Auch heute ist es Ziel der vietnamesischen Wirtschaftspolitik, die sich „sozialistische Marktwirtschaft“ nennt, den Mangel an Infrastruktur, Defiziten im Bildungssektor des Landes und die Bereitstellung von Arbeitsplätzen von Jahr zu Jahr besser zu lösen. Es geht um größeren Wohlstand für die Bevölkerung und die ausreichende Bereitstellung von Produkten für die Bürgerinnen und Bürger. Gemessen wird dies auch in Vietnam am Wirtschaftswachstum
1989: Vietnam muss sich neuen Bedingungen stellen
Mit dem Verschwinden des COMECON (1989) und auch schon zuvor leitet Vietnam unter dem Begriff „Doi Moi“ eine Erneuerung in seiner Wirtschaftspolitik ein. Der private Sektor wurde zugelassen und gestärkt. Die Staatsunternehmen erhielten mehr Handlungsfreiheit, um ein stärkeres und stetigeres Wachstum zu aktivieren.
Zusätzlich versuchte das Land den Export von Nahrungsmitteln voranzutreiben, was in den 90er Jahren sehr gut gelang. Andere Exportgüter gab es nicht. Vietnam entwickelte sich zum drittstärksten Reisexportland und stieg zum weltweit zweitgrößten Kaffeelieferanten auf. [1] Auch Fisch, Pfeffer und Cashew-Nüsse gehören zu den Waren, bei denen Vietnam heute eine führende Rolle innehat. All diese Produkte sind allerdings abhängig von den großen Preisschwankungen des Weltmarktes und den Preisdiktaten der Nahrungsmittelkartelle. Sie leiden unter zeitweiligen Überangeboten und sind abhängig von Sozial- und Ökolabels, die von den „entwickelten“ Ländern mit vermeintlich guten Absichten, aber nach deren Kriterien, definiert werden. Um von dieser einseitigen Abhängigkeit wegzukommen, bemühte sich Vietnam in den 1990er Jahren verstärkt, ausländisches Kapital aus Thailand, Korea, Taiwan, China, den USA und der EU für Direktinvestitionen zu gewinnen. Die Felder waren zunächst die Verarbeitung von Lebensmitteln und dann zunehmend die Fertigung von Schuhen, Kleidung und Elektronikartikeln. Die billige Arbeitskraft wird und wurde auch von deutschen Unternehmen gerne angenommen. Adidas, Adler, ALDI, Deichmann, Jack Wolfskin und wie sie auch alle heißen, lassen in Vietnam fertigen. Das Ziel Vietnams war „Fabrik für die Welt“ zu sein. Die Regierung hat allerdings erkannt, dass damit eine gute wirtschaftliche Zukunft nicht gesichert werden kann. Das Land will weg von der Bekleidungs- und Schuhindustrie, in der in Vietnam und seinen Nachbarländern Millionen Menschen für einen Monatslohn von 200 bis 300 Dollar schuften. Der Grund für den Wechsel ist das, was man 4. Industrielle Revolution nennt. Das schnelle Voranschreiten der automatischen Fertigung könnte die billige Handarbeit in den arbeitsintensiven Industrien schnell verschwinden lassen.
In einem Interview mit der Zeitung „Vietnam Economic Times“ erklärt der Direktor der größten vietnamesischen Textilfabrik Vinatex, Le Tien Truong, im April 2017: „Automatische Fertigungssysteme in unserer Branche und Industrie 4.0 werden zu schnellen und unvorhersehbaren Veränderungen in der Wirtschaft führen. Wenn wir nicht sorgfältige Vorbereitungen treffen, werden unsere derzeitigen Produktionstechniken nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Dies wird sich in den nächsten fünf Jahren abspielen.“ „Vinatex muss aufpassen, dass es nicht aus der globalen Lieferkette herausfällt.“
Bestätigt wird diese Vermutung durch die Analysen der International Labour Organisation (ILO). Sie sieht die Arbeit in der Schuh- und Bekleidungsindustrie, die vor allem von Frauen ausgeführt wird, in hohem Maße als gefährdet an. In Vietnam sind 86 Prozent, in Kambodscha 88 Prozent und in Indonesien 64 Prozent der Arbeitsplätze durch Automatisierung gefährdet. Neun Millionen Arbeitsplätze stehen durch Computer Aided Design (CAD), 3D-Druck, Sewbots (Nähroboter) sowie Scan-Techniken, die passgenaue Kleidung produzieren, auf dem Spiel. Die Textilindustrie ist die Branche, die laut ILO die Automatisierung am stärksten fürchten muss.
2018: Autos bauen statt Schuhe nähen
Einmal mehr muss sich Vietnam, wie so oft in seiner Geschichte, neuen Anforderungen stellen, um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Vietnam bereitet sich deshalb auf einen schnellen Wandel vor. Einer der Wege, die das Land einschlägt, ist es, eine Industrie mit hochwertigen und industriell anspruchsvollen Arbeitsplätzen zu schaffen. Dazu gehört unter anderem der Aufbau einer eigenen Automobilindustrie. Vor den Toren Haiphongs entsteht derzeit in Windeseile ein riesiger Komplex an Fabriken für die Produktion eigener Motorroller und Autos. Bei einem Besuch der Baustellen informierte sich Vietnams Ministerpräsident Nguyen Van Phuc im Mai 2018 über den Stand des ehrgeizigen Projekts. Den Grundstein hatte er nur wenige Monate zuvor, am 2. September 2017, dem vietnamesischen Nationalfeiertag, gelegt. Die Fahrzeuge mit den Markennamen VinFast sollen den Wunsch nach einem eigenen Auto in Vietnam befriedigen. Bereits im September 2018 sollen die ersten Motorroller von Band laufen. Im Sommer 2019 sollen ein hochwertiger SUV und eine Mittelklasse-Limousine folgen und Ende 2019 kleine PKW mit Elektroantrieb. Mittelfristig soll der Ausstoß bei 100 000 bis 200 000 Einheiten jährlich liegen.
VinFast ist ein Kunstwort aus „Vietnam“ und „fast“ (schnell). Der neue Automobilhersteller ist Teil eines erst 2003 gegründeten vietnamesischen Konzerns mit dem Namen VinGroup.
Die Fabrik soll nicht einfach ein Auto eines internationalen Automobilherstellers zusammenschrauben, sondern eigene Fahrzeuge speziell für den vietnamesischen Markt entwickeln und produzieren. Das Land soll unabhängiger werden von den großen Automobil-Konzernen aus Japan, Korea und neuerdings auch China. Unterstützung holen sich Vietnams Autobauer durch Experten für Motorenbau und andere Fahrzeug-Kernkomponenten aus Europa und den USA. Für das Design der Karosserien haben sie sich den italienischen Designer Pininfarina an Bord geholt. Auch bei der Besetzung der Unternehmensleitung greift VinFast auf Personal aus der westlichen Automobilindustrie zurück. CEO (Geschäftsführer) soll ein ehemaliger General-Motors-Mann mit dem Namen James B. Deluca werden. Stellvertreter wird Vo Quang Hue, zuvor Chef von Bosch-Vietnam. Der weltweit agierende Konzern sicherte sich auch gleich die ersten Verträge als Zulieferer. Bosch soll Komponenten und Software für die Fahrzeuge liefern. Außerdem will Bosch mit speziellen Ausbildungsprogrammen für Fachkräfte das Automobilprojekt unterstützen. Die duale Berufsausbildung in Deutschland soll dabei als Vorbild dienen.
Mit dem Dekret 26/CT-TTG auf den Weg zu Industrie 4.0
Vietnams Einstieg in die Automobilindustrie ist nur einer von vielen Schritten in der Neuorientierung seiner Wirtschaft.
Im Mai 2017 unterzeichnete der vietnamesische Ministerpräsiden Nguyen Xuan Phuc ein Dekret, in dem er alle Ministerien, wissenschaftlichen Institutionen und Behörden auf zentraler und örtlicher Ebene sowie (staatliche) Unternehmen aufrief, konkrete Schritte in Richtung industrielle Revolution 4.0 zu gehen. Das zehn Seiten umfassende Papier enthält für jedes Ministerium konkrete Maßnahmen und eng befristete Zeitpläne, zu denen Arbeitspapiere vorzulegen sind. Alle müssten zusammenarbeiten, um Vietnam zu einer „Start-up“-Nation zu machen, erklärte Phuc. Die Informationstechnologien seien als Schlüsseltechnologie zu betrachten, um eine wissensbasierte Wirtschaft voranzubringen, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern und eine anhaltende Entwicklung sicherzustellen. Phuc erklärte „Es ist höchste Zeit, dass Vietnam seine Anstrengungen darauf fokussiert, bei den digitalen Infrastrukturen (Breitbandnetzen), Fachkräften und IT-Anwendungen einen Durchbruch zu erzielen.“ Nahezu alle vietnamesischen Medien berichten unter Berufung auf dieses Dekret, dass alle Ministerien angewiesen wurden, ihre internen Abläufe durch den Einsatz von Informationstechnologien zu verbessern. Ziel sei es, Unternehmen besser zu unterstützen. Dazu gehörten die Vereinfachung der Zoll- und Steuerverwaltung, einfachere Steuererhebungs- und Buchhaltungsregelungen sowie eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Ministerien, um Abläufe zwischen Behörden und Unternehmen zu beschleunigen. Dies soll u. a. durch ein Gesetz über „digitales Dokumentenmanagement und digitale Rechnungsstellung“ erfolgen, das schon in diesem Jahr für die gesamte Wirtschaft anwendbar sein soll.
Pragmatismus und Unabhängigkeit
In der Diskussion in Deutschland über Vietnam wurde in den letzten Monaten häufig über einen Machtkampf in der KP Vietnams zwischen Wirtschaftsreformern und chinaorientierten Traditionalisten gesprochen. Dabei sollen angeblich die wirtschaftsorientierten Kräfte verloren und altmarxistische Positionen gewonnen haben. Solche Urteile über kommunistische Parteien sind alles andere als neu. Die in diesem Beitrag beschriebene Unterstützung der Wirtschaft durch Regierung und Partei zeigt die Haltlosigkeit solcher Thesen. Vietnam steht derzeit allerdings wie viele Länder in der Pazifikregion in einem Spannungsfeld von wirtschaftlichen und militärischen Machtinteressen zwischen China und den USA. Die Führung der KP Vietnams versuchte auch auf dem letzten (12.) Parteitag im Januar 2016 die Einheit der Partei zu wahren, was sich auch in der Repräsentation von Personen in den Führungsgremien der Partei wiederspiegelt. Die Wiederwahl des bisherigen Vorsitzenden Nguyen Phu Trong wurde hierzulande als „Beweis“ der pro-chinesischen Linie gedeutet. Aus vietnamesischer Sicht muss man dies dialektisch formulieren. Trong steht für eine Deeskalierung des Verhältnisses zu China und dies ist Ausdruck einer realistischen Einschätzung der Machtverhältnisse in der Region.
Überhaupt: Will man die Politik der KP Vietnams verstehen, kommt man an der Geschichte des Landes, insbesondere des Befreiungskampfes, an Kenntnissen der Ideen Ho Chi Minhs und asiatisch geprägter Wertesysteme nicht vorbei.
Die politische Kultur in Vietnam basiert im Gegensatz zu den „westlichen Werten“ nicht in erster Linie auf Individualismus und dem Konkurrenzprinzip als Basis der Demokratie. Mindestens ebenso wichtig sind für Vietnam das Prinzip der Einheit und ein politischer Pragmatismus, der das Handeln der vietnamesischen politischen Führer von den antikolonialen Kämpfen über Ho Chi Minh bis zur Gegenwart auszeichnet. Sie haben nämlich stets die realistische Auswertung der Situationen und Kräfteverhältnisse und eine mögliche Reaktion darauf der Durchsetzung von rein ideologischen Ziele vorgezogen. Anders wäre es im letzten Jahrhundert nicht möglich gewesen, den Befreiungskampf zu gewinnen.
[1] Aufgebaut wurde der Kaffeeanbau in Vietnam auf Basis eines Projekts der DDR.