Ein Fragebogen als kleiner Schritt zur Gegenmacht – wie die belgische PTB-PvdA sich auf die Wahlen vorbereitet

Viele Fragen, eine Antwort

Von Olaf Matthes

Wir müssen die Menschen abholen, wo sie stehen – das ist eine der Binsenweisheiten kommunistischer Politik. Aber wo stehen sie? Die einfachste Möglichkeit, um das herauszufinden, ist, sie zu fragen. Mit einer landesweiten Umfrage bereitet die belgische Partei der Arbeit (PTB-PvdA) sich auf die Kommunalwahlen im Oktober 2018 vor.

„Vor den letzten Wahlen 2014 dachten wir, als Hauptproblem sehen die Menschen die Arbeitslosigkeit“, erklärt Alice Bernard, Mitglied des Nationalrats der PTB-PvdA, im Gespräch mit UZ. „Aber unsere Umfrage hat uns damals gezeigt: Unser Eindruck war falsch. Als größtes Problem sehen die Menschen die Armut. Und daran haben wir unser Wahlprogramm dann angepasst.“

In Antwerpen haben knapp 9 000 der über 500 000 Einwohner die Fragen der Partei beantwortet, landesweite Ergebnisse liegen noch nicht vor. Die „Große Umfrage“ der PTB-PvdA ist damit die größte Befragung, die es bisher in Antwerpen, der zweitgrößten Stadt Belgiens, gegeben hat. „Die auffälligste Schlussfolgerung aus der „Großen Umfrage“ ist die Wichtigkeit, die die Bürger von Antwerpen dem Kampf gegen Armut zuschreiben“, schätzt die Partei in ihrer Auswertung ein. Unter den Themen, die die Befragten als ihre Prioritäten nennen konnten, gaben die meisten „Stadt ohne Armut“ an – vor „sichere Stadt“ und „nachhaltige Stadt“. Die Forderung, die unter den Befragten die größte Unterstützung fand, ist, den Mindestlohn über die Armutsgrenze anzuheben.

Die meisten Menschen, 61 Prozent, beantworteten die Fragen im persönlichen Gespräch mit Mitgliedern der PTB-PvdA: Die Parteimitglieder gingen in Gruppen durch die Viertel oder befragten ihre Freunde und Kollegen. Die restlichen Antworten wurden online über die Website der PTB-PvdA abgegeben. Im Schnitt nahmen die Befragten sich zwölf Minuten Zeit für die Umfrage. Um die Fragebögen zu erstellen und auszuwerten hat die Partei einen Wissenschaftler beauftragt. Die Fragebögen enthalten sowohl geschlossene Fragen – welches dieser Themen ist Ihnen am wichtigsten, welchen dieser Forderungen stimmen Sie zu – als auch offene Fragen, z. B.: Was müsste sich in Ihrer Gemeinde verändern? Worin sehen Sie die größten Stärken bzw. Schwächen der PTB-PvdA? Ein Drittel derjenigen, die an der Umfrage teilnahmen, gaben an, bei den nächsten Wahlen auch für die PTB-PvdA stimmen zu wollen.

Vor über 15 Jahren hat die Partei damit begonnen, sich mit solchen Umfragen auf Wahlen vorzubereiten – zunächst auf kommunaler Ebene. Alice Bernard berichtet, wie sie mit diesem Werkzeug die Partei stärken konnten: In Herstal, einer Gemeinde im Großraum Lüttich, gingen die Parteimitglieder davon aus, dass die Leute vor allem mit der starken Luftverschmutzung durch die nahe gelegene Müllverbrennungsanlage unzufrieden seien. Die Umfrage zeigte ein anderes Bild: Als Hauptproblem sahen sie die teuren Müllgebühren. Bernard berichtet: „Wir haben dann unseren Wahlkampf gegen die Müllgebühren geführt – und natürlich haben wir diese Frage mit den grundsätzlichen Widersprüchen unserer Gesellschaft verbunden: Mit dem privaten System der Müllentsorgung, mit der Frage, wie der Müll entsorgt und verbrannt wird, damit, wie die Multinationalen ihre Geschäfte mit der Entsorgung machen – das ganze System.“ Die PTB-PvdA rief dazu auf, gegen die Müllgebühren zu protestieren, mit Müllsäcken gingen die Menschen zur Gemeinderatssitzung. Der Bürgermeister bekam Wut und Angst um seine Mehrheit, die PTB-PvdA gewann zum ersten Mal Sitze im Gemeinderat. „Das war sehr lehrreich für uns“, sagt Bernard. „Wir haben neue Leute kennengelernt, die aktiv geworden sind.“

Die Parteimitglieder nutzen die Fragebögen, um mit ihrem Nachbarn und ihrer Kollegin ins Gespräch zu kommen. So erfährt die Partei mehr darüber, was die Arbeiterklasse denkt. „Für die Mitglieder ist das ein Weg, um aktiv zu werden – du zeigst dich als Parteimitglied.“

Diese neue Art Wahlkämpfe zu führen ist nur eine Facette des Kurses, mit dem die PTB-PvdA von einer maoistischen K-Gruppe zu einer „kommunistischen Partei unserer Zeit“ geworden ist, wie sie sich in ihrem Statut nennt, die in den Massen verankert und bei Wahlen erfolgreich ist. Ihre Arbeit der Vergangenheit schätzt sie heute als teilweise sektiererisch und dogmatisch ein – aber in dieser Arbeit hat sie einen Kern von überzeugten, engagierten und selbstkritischen Kadern herangezogen, mit dem die Partei sich ab 2003 erneuern konnte. Ihre erneuerte Partei beschrieben die Vertreter der PTB-PvdA Ende März auf der Vierparteienkonferenz in Luxemburg als eine „revolutionäre Partei, die zielgerichtet ansetzt am aktuellen Bewusstsein der Masse, mit entsprechender Vorgehensweise und einer zugänglichen Sprache.“ Die wichtigste Aufgabe der Partei sei, „prinzipientreu und gleichzeitig flexibel zu sein“.

Diese Linie hat dazu geführt, dass sich die Mitgliederzahl seit 2006 auf mehr als 14 000 versechsfacht hat und dass die Partei seit der letzten Parlamentswahl zwei Abgeordnete im belgischen Parlament stellt. Und dieses Wachstum hat dazu geführt, dass die PTB-PvdA in den Medien und auf der Straße danach gefragt wird, ob sie bereit ist, im kommenden Jahr in eine Regierung einzutreten.

Bereits auf ihrem Kongress 2015 stellte die PTB-PvdA fest, dass dieses Wachstum auch neuen Druck auf die Partei bedeutet: Den Druck, „stets als pragmatische Partei zu erscheinen“, den Druck, dass manche Menschen hoffen, die Partei werde die Probleme lösen, ohne dass sie selbst aktiv werden müssten. Die PTB-PvdA reagierte darauf unter anderem mit dem Beschluss, die marxistische Bildungsarbeit in der Partei zu verstärken und mit klaren Festlegungen, dass die Parlamentarier der Partei den Parteibeschlüssen unterworfen sind. Auf die Fragen nach der Regierungsbeteiligung antwortet sie nicht, wie sie es vielleicht früher getan hätte, indem sie die marxistische Analyse über den Charakter des bürgerlichen Staates herunterbetet. Der Parteivorsitzende Peter Mertens antwortete auf die Fragen nach einer Regierungsbeteiligung vor einigen Monaten in einem Interview: „Die Leute haben recht, die Nase voll von der Politik zu haben. Wir halten es für unwahrscheinlich, dass Sozialdemokraten und Grüne sich so stark verändern, dass wir mit ihnen eine radikal andere Politik umsetzen können. Es ist absurd, über Regierungsbeteiligung zu sprechen, ohne eine Gegenmacht aufzubauen.“ Damit das Bewusstsein entsteht, das diese Gegenmacht ermöglicht, helfe es nicht, den Menschen zu versprechen, dass die Partei die Probleme löst. Es gehe darum, sie zu mobilisieren. Alice Bernard sagt: „Das ist unsere Hauptaufgabe. Wir müssen auf die Straße.“

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"Viele Fragen, eine Antwort", UZ vom 20. April 2018



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