Corona-Pandemie offenbart die allgemeine Krise des Kapitalismus – für diejenigen, die sie sehen wollen

Verwirrte und Verwirrer

Der Überbietungswettbewerb der Lockerungen von Corona-Maßnahmen der Bundesländer ging mit der Ankündigung des Ministerpräsidenten der Partei „Die Linke“, Bodo Ramelow, weiter. In Thüringen sollen die Einschränkungen zugunsten der Eigenverantwortung zurückgenommen werden. Gleichzeitig werden Massenansteckungen in Restaurants und bei Gottesdiensten gemeldet.

Vor allem Schulen und Kindergärten sind in ihrer Arbeit noch stark eingeschränkt. Zur Wahrung des Mindestabstandes in den Unterrichtsräumen müssen die Klassen aufgeteilt werden. In einigen Fällen wegen zu großer Schülerzahl und zu kleinen Räumen in drei Gruppen, die dann im Wechsel unterrichtet werden sollen. In Kindergärten sieht die Situation ähnlich aus. Das Recht der Kinder auf Bildung und Erziehung wird dem Gesundheitsschutz untergeordnet. Lehrer und Betreuer sollen Regelungen einhalten, die in anderen Bereichen längst aufgeweicht sind. Eltern sollen wieder arbeiten, ohne dass die Betreuung ihrer Kinder gewährleistet ist.

Von solch konkreten Problemen der arbeitenden Menschen in diesem Land war auf den Demonstrationen und Kundgebungen der vergangenen Wochen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung wenig zu hören. Häufig ging es um die individuellen Freiheitsrechte, noch häufiger um Individualismus. Das hatte in vielen Städten Tausende auf die Straßen gebracht. Am vergangenen Wochenende war der Zulauf deutlich geringer, was nicht nur am schlechteren Wetter gelegen hat.

In Stuttgart versuchte der Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner, ehemaliges AfD-Mitglied, die Demonstration der Initiative „Querdenken 711“ von rechts zu übernehmen und fortzuführen. Nach langem Marsch durch den Stuttgarter Nieselregen versammelten sich am vergangenen Samstag schließlich 100 Menschen auf dem riesigen Wasengelände. Am Tag darauf folgte die AfD, die ihre Kundgebung in der Stuttgarter Innenstadt vor dem Verwaltungsgerichtshof erstritten hatte. Die Teilnehmerzahl war behördlich auf 100 beschränkt.

Der DGB hatte in der baden-württembergischen Landeshauptstadt zu einer Kundgebung zum 71. Jahrestag des Grundgesetzes aufgerufen. Neben den darin festgeschriebenen erkämpften Rechten verwiesen Redner auch auf Angriffe wie den Radikalenerlass und die faktische Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl. Ross, Reiter und Steigbügelhalter blieben allerdings auch hier unerwähnt. In Bezug auf die Demonstrationen gegen die Corona-Regelungen blieb es bei bloßer Abgrenzung gegenüber Neonazis, Verschwörungstheoretikern, Corona-Leugnern und Impfgegnern. Darauf lassen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der sogenannten Hygiene-Demos allerdings in Stuttgart nicht reduzieren. Aber ohne Frage, es gibt sie bei den bundesweiten Kundgebungen. Tendenz steigend.

In Berlin demonstrierten zum Beispiel die selbsternannten DDR-Bürgerrechtlerinnen Vera Lengsfeld und Angelika Barbe mit Medienaufmerksamkeit für das Grundgesetz. Dass sowohl Barbe, die noch in der Vorwoche gemeinsam mit ihrem Mann am Alexanderplatz von der Polizei festgenommen worden war, wie auch Lengsfeld mittlerweile als überzeugte Rechtsaußen-Politikerinnen gelten, wurde von der Mehrheit der bürgerlichen Medien geflissentlich ausgeblendet. Ein herausragendes Exemplar ist auch der gehypte Koch Attila Hildmann, der am vergangenen Wochenende zum wiederholten Male festgenommen wurde. Er unterstellt dem Milliardär und Mitfinanzier der WHO Bill Gates, einen Plan zur Bevölkerungsreduktion, sprich Vernichtung der Menschheit, zu verfolgen. Ob Verwirrung oder Auftrag, Verwirrung in die Köpfe zu tragen, ist da schwer ausein­anderzuhalten.

Am Ende gewinnt einmal mehr das Monopolkapital. Darauf verwies zum Beispiel der linke Politiker Oskar Lafontaine in einem Kommentar: „Aber der Einfluss des Geschwisterpaares Quandt und Klatten (geschätztes Vermögen 29 Milliarden Dollar) auf die Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftsteuer in Deutschland und der Medien-Damen Mohn (Bertelsmann, geschätztes Vermögen 3 Milliarden Dollar) und Springer (geschätztes Vermögen 4 Milliarden Dollar) auf die öffentliche Meinungsbildung, darf bei allem berechtigten Zorn auf das Treiben der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung nicht aus der Diskussion verschwinden.“

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Verwirrte und Verwirrer", UZ vom 29. Mai 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit