Vertuschen und verdunkeln

Deutsche Justiz wollte den Opfern von Kundus kein Recht zugestehen

Auf dem Bildschirm in der Kommandozentrale der „Task Force 47“ in Kundus sieht man ein Gewimmel von kleinen Lichtpunkten und mehrere dunkle Objekte. Die Lichtpunkte sind Menschen. Um 1.35 Uhr am 4. September 2009 gibt Oberst Georg Klein seinem Fliegerleitfeldwebel Markus Wilhelm den Befehl zur „Freigabe“. Wilhelm (Einsatzname: „Red Baron“) leitet die Order per Funk an die Piloten zweier F15-Kampfjets weiter, die in großer Höhe über jener Sandbank kreisen, in der sich zwei von den Taliban entführte Tanklastzüge seit Stunden festgefahren haben. Die US-Piloten haben Zweifel und meinen, sie hätten sich verhört: Fünf Mal fragen sie im Gefechtsstand an, ob nicht vor dem tödlichen Angriff die „unbestimmte Anzahl von INS“ (Aufständische) durch Tiefflüge verscheucht werden sollen. Fünfmal antwortet Red Baron „Negativ“. Nicht nur das. Er funkt, es seien keine Zivilisten vor Ort, es habe bereits Feindberührung mit Bodenstreitkräften der ISAF gegeben und die LKWs würden unmittelbar als fahrende Sprengbomben gegen das Feldlager Kundus eingesetzt werden.

Alles Lügen, wie sich später herausstellen wird. Die letzte Frage aus dem Cockpit der F-15, ob die lasergesteuerten Bomben des Typs GBU-38 die LKWs zerstören sollen oder auch menschliche Ziele, beantwortet Wilhelm mit „Beides“. Um 1.50 Uhr treffen zwei 500-Pund Bomben die Sandbank. „Ich werde diesen Moment nicht vergessen. Es war erst ein lautes Summen, wie bei einem Kurzschluss in einem Generator. Dann gab es einen hellen Blitz. Es war unerträglich heiß und überall lagen Leichen, völlig verkohlt“, sagt später der verletzte Fahrer des einen LKWs, Abdul Malek. Über 140 Tote bleiben zurück – Zivilisten aus den benachbarten Dörfern, denen die etwa 20 Taliban erlaubt hatten, den Sprit aus den fahrunfähigen Trucks abzuzapfen. 26 tote Kinder – Kinder wie Ali Mohammed. „Ich fand nichts von ihm. Ich habe ein Stück Fleisch gegriffen, mitgenommen, es meinen Sohn genannt, in eine Plastiktüte getan. Dann haben wir die Tüte bestattet“, sagt später sein Vater in einem Interview. „Minimale Spuren von Humanmaterial“, heisst es dazu im Feldjägerbericht. Auch Abdul Hanan hat seine beiden minderjährigen Söhne verloren. Er erstattete gegen Oberst Klein und Oberfeldwebel Wilhelm Strafanzeige.

Die deutsche Generalstaatsanwaltschaft lehnte die Einleitung eines Strafverfahrens am 13. Oktober 2010 ab. Keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt nach dem Völkerstrafrecht und dem deutschen Strafgesetzbuch, auch keine fahrlässige Tötung. Nur vier Personen wurden vernommen – allesamt Militärangehörige, kein Geschädigter, kein Überlebender, kein unmittelbarer Augenzeuge. Weite Teile der Einsatzdokumente wurden den Anwälten Hanans vorenthalten, Begründung: „Aktenbestandteile, die geheimhaltungsbedürftige Informationen enthalten, (dürfen) Taliban und damit der gegnerischen Konfliktpartei nicht zur Kenntnis gelangen“.

Auch der Klageerzwingungsantrag beim Oberlandesgericht Düsseldorf lief ins Leere. Das OLG arbeitete – wie bei unliebsamen Anträgen nicht unüblich – mit der Zulässigkeitskeule. Der Antragsteller habe in seinem 142-seitigen Antrag die Formalien nicht beachtet. So hätte er zum Beispiel zwar zutreffend gerügt, das ihm die Anlagen zum Feldjägerbericht nicht ausgehändigt wurden, habe aber nicht genau erläutert „welche Unterlagen ihm nicht zugänglich waren“, so das OLG am 16. Februar 2011. Wie überhaupt jemand etwas, was er nicht kennt und nie gesehen hat, genau bezeichnen soll, bleibt das Geheimnis der Justiz.

Auch die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos: Das Bundesverfassungsgericht attestierte dem Antrag am 19. Mai 2015 schlichtweg, er habe „keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ und nahm die Sache zur Entscheidung nicht an. Nun blieb Hanan nur noch der Weg zum „Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ (ECHR). Der Antrag wurde am 13. Januar 2016 eingereicht. Gerügt wurden Verstöße gegen Artikel 1 (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte), Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 13 (Recht auf wirksamen Rechtsschutz) der EU-Menschenrechtskonvention. Am 26. Februar 2020 – mehr als 10 Jahre nach Bombardement – fand die Anhörung der Parteien durch die Große Kammer des ECHR statt. Die Rechtsanwälte Wolfgang Kaleck und Dapo Akande gingen detailliert auf sämtliche Ermittlungsfehler der deutschen Seite ein. Die Bevollmächtigte der Bundesregierung, Almut Wittling-Vogel, verstieg sich darauf, dass jede Verantwortung deutscher Soldaten per se ausscheide, da der Luftangriff unter der Oberhoheit internationaler Streitkräfte gestanden habe.

Das Urteil des ECHR wird in den nächsten Monaten erwartet. Die Chancen für Abdul Hanan stehen gut, hatte doch der eingesetzte Untersuchungsausschuss des Bundestags in seinem 580-seitigen Bericht allein 10 Verstöße gegen die ISAF-Einsatzregeln herausgearbeitet, unzählige Verdunklungs- und Täuschungshandlungen aufgedeckt und nicht nachvollziehen können, weshalb Tötungsdelikte ausscheiden sollten. Auch LKW-Fahrer Malek wartet auf eine neue Entscheidung. Seine Schadensersatzklage war vom Verwaltungsgericht Köln am 9. Februar 2012 mit der Begründung verworfen worden: „Der Bombenabwurf richtete sich (…) nicht gegen andere Personen als Taliban und damit auch nicht gegen den Kläger als Fahrer eines Tanklasters“.

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