„Lear“ von Shakespeare: Konflikte und Kollisionen

Verteilung tilgte dann das Übermaß …

Mit Shakespeare entsteht eine Kunst, die sich ihrer selbst historisch bewusst wird, die begreift, dass die Realität, die sie darstellt, historisch, also veränderbar ist. Shakespeares Tragödien sind um einen historischen Konflikt gebaut. Aufgabe der Interpretation ist es, diesen zu begreifen. Shakespeares Zeit ist das England des 17. Jahrhunderts: die frühe Neuzeit als eine Zeit epochaler Umbrüche, die Herausbildung der ersten Phase der bürgerlichen Gesellschaft, in der das Theater, wie wir es kennen, überhaupt entsteht.

Zu den zentralen Einsichten des Marxismus gehört, dass die Geschichte seit Ende der Urgesellschaft eine Geschichte von Klassengesellschaften und -kämpfen ist. Kunst ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und des menschlichen Begreifens der Welt. Um zum Kern eines Kunstwerkes zu gelangen, muss man es also im Kontext seiner Zeit, der gesellschaftlichen Kräfte seiner Epoche verstehen.

In seinen Tragödien stellt Shakespeare den Konflikt antagonistischer Kräfte dar, die mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt und dem Aufstieg des frühen Bürgertums entstanden. Auch innerhalb des Bürgertums entstehen gegensätzliche Kräfte – in den Begriffen aus der Renaissance: Humanismus und Machiavellismus; Humanismus im Sinne von Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, Machiavellismus im Sinne von Niccolò Machiavelli, wie er von den Renaissancehumanisten rezipiert wurde.

Eine dritte Kraft sind die Vertreter der alten Ordnung, der mittelalterlich-feudalen Welt. Der vierte Akteur ist das plebejische Element, das arbeitende Volk, das in „Hamlet“ als Totengräber erstmals eine Stimme erhält. Vor allem von den gegensätzlichen bürgerlichen Kräften geht der Hauptkonflikt der Tragödien aus.

König Lear ist ein absoluter Herrscher, der den Kontakt zu seinem Volk und zum eigenen Verstand verloren hat. Er lebt in einer streng geordneten feudalen Welt, in der der Platz jeder Person innerhalb der Hierarchie klar definiert und unveränderlich ist. Lear kann daher die Respektlosigkeit seiner älteren Töchter ihm gegenüber nicht fassen. Ihre Missachtung für ihn, nachdem er Macht und Königreich an sie übergeben hat, lässt seine Welt völlig zerbrechen. Mit seinem Verstoß aus der ihm bekannten Welt betritt er die Heide als Mensch, der alles verloren hat.

Der Sturm auf der Heide symbolisiert, was in Lears Kopf vorgeht. Hier, unter den Armen und „Irren“, begreift Lear das Leid der Besitzlosen. In der Schlegel/Tieckschen Übersetzung heißt es

Ihr armen Nackten, wo ihr immer seid,
Die ihr des tück’schen Wetters
Schläge duldet,
Wie soll eu’r schirmlos Haupt,
Hungernder Leib,
Der Lumpen offne Blöß’ euch
Schutz verleihn
Vor Stürmen, so wie der?
Oh, daran dacht’ ich
Zu wenig sonst!

Lear erkennt im „Wahnsinn“, dass er sich für die Elenden nie interessiert hat. Als Lear auf Edgar trifft, der sich als ein umnachteter Bettler ausgibt und praktisch nackt erscheint, geht seine Einsicht noch weiter:

du bist das Ding selbst;
der natürliche Mensch ist nichts mehr,
als solch ein armes, nacktes,
zweizinkiges Tier wie du.

Hier entdeckt er essentielle Menschlichkeit. Das ist ein entscheidender Moment in Lears Entwicklung. Symbolisch, um dieses neue Verständnis zu betonen, reißt er sich selbst die Kleider vom Leib. Natürlich gibt es auch Momente echten Wahnsinns, doch meist verbirgt sich ernste Einsicht, wie zum Beispiel in Lears Scheinprozess gegen Goneril und Regan mit Edgar und dem Narren als Richter.

Nun lasst sie Regan anatomieren und sehn, was in ihrem Herzen brütet! Gibt’s irgendeine Ursach’ in der Natur, die diese harten Herzen hervorbringt?

Später, als Lear auf den geblendeten Gloucester trifft, kommentiert er soziale Ungerechtigkeit:
Kann man doch sehn, wie es in der Welt hergeht, ohne Augen. Schau’ mit dem Ohr: sieh, wie jener Richter auf jenen einfältigen Dieb schmält! Horch, – unter uns – den Platz gewechselt und die Hand gedreht: Wer ist Richter, wer Dieb? Lears „Doppelgänger“, Gloucester, erkennt:

Verteilung tilgte dann das Übermaß,
Und jeder hätte g’nug.

Lear, der gesalbte König, wird in einen Raum außerhalb machiavellistischer Ordnung getrieben. Nun, da er sein Leben mit den nackten Elenden seines Reiches teilt, erkennt und bejaht er ihre gemeinsame Menschlichkeit. Dies wiederum lässt ihn die enorme soziale Ungerechtigkeit und Korruption in seinem Reich erkennen, Unrecht, für das er verantwortlich ist. Letztlich führt ihn seine Erfahrung zu der Einsicht, dass nur eine gerechte Verteilung des Reichtums dies beheben kann. Lears Zerstörung bedeutet den Verlust seiner Einsicht, den Verlust seiner neuen Menschlichkeit. Das macht seine Vernichtung tragisch.

Goneril, Regan, Edmund und Cornwall sind in diesem Stück die selbstsüchtigen Machiavellisten der jüngeren Generation. Sie erscheinen uns in ihrem Denken und Handeln erschreckend modern: Gewinn und Macht gehen über die Würde und das Leben anderer.

Ein Hauptthema des Stücks ist also der katastrophale Zusammenprall sozialer Ordnungen: Der absolute Herrscher wird von der neuen machiavellistischen Generation seiner Macht, seiner Würde, seines Rechts auf Obdach beraubt. Neben der gefährlichen, ja mörderischen neuen Macht gibt es humanistische Kräfte, die in der Lage sind, die Gesellschaft auf menschliche Weise zu leiten, die ihr Leben opfern, um das Böse zu besiegen.
Cordelia und Edgar verkörpern die Tradition des Renaissancehumanismus. Sie sind klug und denken an das Gemeinwohl. Obwohl Cordelia durch Edmunds Intrigen stirbt, schwört Edgar, zum König ausgerufen, in ihrem Sinne zu regieren. Shakespeares historischer Optimismus zu Beginn der Epoche, in der wir noch leben, erlaubt es ihm, die Vernichtung der Machiavellisten zu zeigen. Die Warnung vor ihnen aber bleibt bestehen.

Shakespeare ist auch heute noch aktuell. In seinen Dramen geht es eben nicht um eine historisch losgelöste, unveränderbare conditio humana. Sie handeln von seiner Zeit und damit also auch von unserer Zeit.

In der heutigen Welt erinnert die Not des Prekariats und der Flüchtlinge an Shakespeares Warnung. Lears Erkenntnis der Menschenwürde, der sozialen Ungerechtigkeit und der Notwendigkeit einer gerechten Verteilung des Reichtums hat nichts an Dringlichkeit verloren. Indem er seinem Publikum das Wesen seiner und damit auch unserer Zeit vor Augen führt, zeigt Shakespeare, wie sie sich verändern kann und muss. Das macht seine Stücke für uns heute so wichtig.

Von der Autorin ist im Neue Impulse Verlag Essen das Buch 
„Shakespeares Tragödien – Eine Einführung“ erschienen, 
2016, 210 Seiten, 12,80 Euro

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"Verteilung tilgte dann das Übermaß …", UZ vom 12. Februar 2021



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