In der Nacht auf den 10. Juli starb Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren. Sie hatte das KZ Auschwitz, das KZ Ravensbrück und einen Todesmarsch überlebt. Schockiert über das Wiedererstarken faschistischer Parteien wurde sie ab Ende der 1970er Jahre zu einer der profiliertesten und engagiertesten Antifaschistinnen der BRD. Als Ehrenvorsitzende der VVN-BdA und Kommunistin kämpfte sie unermüdlich für die Umsetzung des Schwurs von Buchenwald. Wir dokumentieren hier den Nachruf der DKP und den flammenden Appell, den Esther zum 50. und 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zusammen mit Peter Gingold an die Jugend richtete.
Nehmt es wahr, nehmt wenigstens Ihr es wahr …
Appell an die Jugend von Esther Bejarano und Peter Gingold
Am 15. März 1997 verfassten Esther Bejarano und ihr Freund und Genosse Peter Gingold aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Gründung der VVN-BdA den „Appell an die Jugend“. Sie erneuerten ihn am 8. Mai 2005. Zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus war der NPD eine Demonstration mitten durch Berlin genehmigt worden. Tausende Antifaschistinnen und Antifaschisten, an ihrer Spitze der Kommunist Peter Gingold, konnten das an diesem Tag verhindern.
Nehmt es wahr, nehmt wenigstens Ihr es wahr, was von Euren Vorfahren meistens verdrängt, auch diskriminiert und verleugnet wurde: Das Bedeutsamste und Kostbarste aus deutscher Geschichte ist und bleibt der antifaschistische Widerstand.
Zumeist waren es einfache Frauen und Männer, vorwiegend aus der Arbeiterbewegung, in der Mehrzahl Jugendliche, die gegen Hitler und den Krieg kämpften. Nicht erst, als offenkundig wurde, dass Hitler den Krieg verliert, sondern von 1933 an! Den Krieg wollten sie verhindern, den jüdischen Menschen, den Völkern Europas und dem eigenen Volk das unermessliche Leid ersparen, das der Nazifaschismus letztlich über sie brachte. Dafür riskierten sie alles, ihre Existenz, ihre Freiheit und ihr Leben, nahmen Konzentrationslager und Folter in Kauf. Vergesst deshalb nie! Ihnen ist es zu verdanken, dass der Name unseres Landes nicht ausschließlich mit Schande und Ehrlosigkeit besudelt wurde.
Wir, die Überlebenden, haben vor 50 Jahren die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, die VVN gegründet. Unterschiedlich in unseren politischen und weltanschaulichen Auffassungen sowie in unserer sozialen Herkunft, waren wir gemeinsam im Widerstand und verfolgt. So haben wir auch gemeinsam die VVN gegründet, Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Juden und Christen. Wir haben überlebt mit einem einzigen Gedanken: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Es galt, das Vermächtnis der Millionen Toten der faschistischen Massenvernichtung zu bewahren, die die Befreiung am 8. Mai nicht erleben konnten.
Der Nazihölle entronnen, dem sogenannten „Tausendjährigen Reich“, das für uns tatsächlich wie tausend Jahre war, jede Stunde, jeden Tag den Tod vor den Augen. Diese entsetzliche Zeit hinter uns, träumten wir von einem künftigen Leben ohne Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus.
Wir wollten, dass unsere unmenschlichen Erfahrungen eine Warnung für die Nachwelt sein würden.
Wir träumten von einem Leben in sozialer Gerechtigkeit, in Frieden und Freundschaft mit allen Völkern.
Wir träumten, dass nun für alle Zeiten unsere Kinder und Kindeskinder sich der Sonne, der Blumen, der Liebe erfreuen können, ohne in Angst vor Faschismus und Krieg leben zu müssen. Nach der Befreiung war es für uns, die Überlebenden, unvorstellbar, dass fast nichts von unseren Visionen und Hoffnungen in Erfüllung gehen würde.
Unfassbar für uns, wie reibungslos sich der Übergang vom Nazireich in die Bundesrepublik vollzog. Dass ehemalige hohe Nazifunktionäre entscheidende Positionen in Regierung, Verwaltung, Wirtschaft, Justiz, Hochschulen, Medizin, im Geheimdienst und Militär einnahmen und damit jahrzehntelang wesentlich das Klima der Politik und die prägenden Geburtsjahre dieser Republik bestimmten. Kriegsverbrecher, selten belangt und wenn, dann schonend behandelt, erhalten bis heute Opferrenten, während ganze Gruppen von Verfolgten des Naziregimes, unter anderem ehemalige Zwangsarbeiter, immer noch ohne Entschädigung bleiben. Ganz zu schweigen von dem diskriminierenden Umgang mit Wehrmachtsdeserteuren, die sich verweigerten, einem verbrecherischen Krieg zu dienen.
1945 war es für uns unvorstellbar, dass Ihr, die Nachgeborenen, erneut konfrontiert sein würdet mit Nazismus, Rassismus, einem wieder auflebenden Nationalismus und Militarismus. Und nun noch die ungeheure Massenarbeitslosigkeit, die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die katastrophale Zerstörung der Umwelt. Immer mehr junge Menschen leben in Zukunftsängsten.
Wir hoffen auf Euch. Auf eine Jugend, die das alles nicht stillschweigend hinnehmen wird! Wir bauen auf eine Jugend, die sich zu wehren weiß, die nicht kapituliert, die sich nicht dem Zeitgeist anpasst, die ihm zu trotzen versteht und deren Gerechtigkeitsempfinden nicht verloren gegangen ist.
Wir setzen auf eine Jugend, höllisch wachsam gegen alles, das wieder zu einer ähnlich braunen Barbarei führen könnte; eine Jugend, die nicht wegsieht, wo Unrecht geschieht, wo Menschenrechte verletzt werden; eine Jugend, die sich in die Tradition des antifaschistischen Widerstandes zu stellen vermag; eine Jugend, die diese Tradition aufnimmt und auf ihre eigene Art und Weise weiterführt. Wir glauben, dass dafür Eure Herzen brennen können, dass Euer Gewissen nicht ruhen wird.
Lasst Euch nicht wegnehmen, was Ihr noch an demokratischen und sozialen Errungenschaften vorfindet. Lasst sie nicht weiter abbauen! Von keinem Regierenden sind sie Euch geschenkt worden:
Es sind vor allem die Errungenschaften des antifaschistischen Widerstandes, der Niederringung des Nazifaschismus. Verteidigt, was Ihr noch habt, verteidigt es mit Klauen und Zähnen!
Es verlangt nur etwas Zivilcourage, nicht einmal besonderen Mut. Ihr riskiert nicht das Leben, nichts, was dem antifaschistischen Widerstand vergleichbar wäre. Und vergesst nicht: Der Internationalismus und die Solidarität mit den Benachteiligten und Ausgegrenzten sind unentbehrlich in diesem Kampf. Knüpft dieses Band immer fester, macht es unzerreißbar!
Reiht Euch auch ein in die Kampfgemeinschaft VVN-Bund der Antifaschisten, den organisierten Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses an Widerstand und Verfolgung. Sie braucht Euch! In absehbarer Zeit wird es keine Zeitzeugen des schrecklichsten Abschnitts deutscher Geschichte mehr geben. Lasst das Vermächtnis des Widerstandes nicht in Vergessenheit versinken – den Schwur von Buchenwald:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!“
Übernehmt Ihr nun diesen immer noch zu erfüllenden Auftrag: ein gesichertes menschenwürdiges Leben im friedlichen Nebeneinander mit den Völkern der Welt! Sorgt dafür, dass aus der Bundesrepublik ein dauerhaftes, antifaschistisches, humanes, freiheitliches Gemeinwesen wird, in dem einem Wiederaufflammen des Nazismus, nationalem Größenwahn und rassistischen Vorurteilen kein Raum mehr gegeben wird.
Wir vertrauen auf die Jugend, wir bauen auf die Jugend, auf Euch!
Peter Gingold (1916 bis 2006) war ein profilierter Frankfurter jüdischer Antifaschist, Kommunist, Verfolgter des Naziregimes und Widerstandskämpfer gegen den Faschismus.
Zeit seines Lebens engagierte er sich unermüdlich im Kampf gegen alles Faschistische, aktiv unter anderem als deutscher Antifaschist in der französischen Widerstandsbewegung Résistance. In seinen letzten Lebensjahren trat er immer wieder als Zeitzeuge vor allem vor Jugendlichen, in Schulen, Jugendgruppen, in Versammlungen und Veranstaltungen auf, um aus seinem Leben, seinem Kampf und seinen Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus zu berichten.
Das tat er eindrucksvoll, überzeugend und mitreißend. Entschieden trat er alten und neuen Nazis entgegen, ebenso allem, was zu Nazismus, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gehört oder diese zu fördern droht. Er war und blieb ein außergewöhnlich engagierter Antifaschist, dessen Einsatz Achtung und Anerkennung auch bei Menschen anderer politischer Auffassung und Zugehörigkeit fand.
Quelle: gingold-initiative.de