Bricht es an wem oder an was? Josefine Soppas Roman „Mirmar“

Verstellter Meeresblick

Gegen Ende von Josefine Soppas „Mirmar“ legt die Autorin den Modus ihres Debütromans blank: „Eine Art von Lustigkeit in der Übermüdung ist da, die schnell zur Lustlosigkeit abebbt und dann doch wieder lustig wird.“ Nach müde, sagt das, kommt nicht dumm, sondern eine zweite Luft. Das Hirn hört schließlich auch nicht auf zu rattern, wenn man sich zwischen den Schichten wie einen überbeanspruchten Arbeitsrechner ablegt. Es arbeitet im Schlafmodus weiter.

Die beiden Hauptprotagonistinnen von „Mirmar“, Mutter und Tochter, kennen nichts anderes außer Schuften in befristeten Anstellungen, die ständige Suche nach neuen Möglichkeiten, sich zu verdingen, und dazwischen die kaum ausreichende Rast. Sie untervermieten ihre Wohnungen und leben erzwungenermaßen regelmäßig beieinander, um über die Runden zu kommen. Das Übermaß an Flexibilisierung und Prekarisierung, dem sie ausgesetzt sind, nennt die Tochter und Erzählerin des Romans die „Privatisierung der Privatisierung“, einen potenzierten Kapitalismus mit Entfremdung ohne Limit, die der Roman spiegelt. Es gibt keine Namen, die Arbeitsorte, Messen und Flughäfen, sind völlig austauschbar. Selbst das dialoglose Schriftbild vermittelt, dass da nichts ist, was man greifen, an dem man sich festhalten kann. Auch die Gedankenschleifen der Erzählerin vermitteln so Allgemeines, dass man beim Denken im Leerlauf zuschaut; wenn sie etwa über ihre Mutter sagt: „Sie wusste, dass die Privatisierung der Privatisierung auch bedeutete, zu wissen, dass beispielsweise das eigene Versagen keine private Angelegenheit ist, und sich trotzdem schuldig zu fühlen. Sie wusste um den Zusammenhang von Schuld und Schulden.“

Privat ist dann das kleine Glück, von dem berichtet wird, als die Mutter verschwindet. Möglich, dass sie nicht wirklich ans Meer zieht und dort mit anderen Frauen leerstehende Ferienhäuschen am Strand bewohnt, schließlich gerät man allein deshalb in Zweifel darüber, wie zuverlässig darüber erzählt wird, dass die Ich-Erzählerin der verloren gegangenen Mutter schlichtweg nicht mehr beiwohnt und von Erlebnissen berichtet, von denen sie schlichtweg nichts wissen kann. Dissonanzen wie diese sind im Werk aber gesetzt und kein Versehen. Dass die Figuren kaum psychologisch gestrickt sind und austauschbar wirken, unterstreicht genauso die Reproduktion der Verhältnisse wie das Fragezeichen hinter der Existenz der Mutter, zu der sich die Tochter auf den Weg macht. Oder: Zu der die Tochter wird.

Hin zur Mutter mit dem Meerblick, der, wie der Buchtitel andeutet, dann doch verstellt scheint. „Miramar“, der aus den Spanischen „mirar“ (schauen) und „mar“ (Meer) zusammengesetzte Meerblick, wird die Mitte genommen, das Wort zusammengezurrt zu „Mirmar“, als müsste man sich beeilen beim Aussprechen, ehe es ganz weggespült wird.

Die Tochter flieht aber auch vor der mehr und mehr unerträglichen Arbeitswelt, in der sich Kolleginnen am Werbestand mit dem als Kundenköder gedachten Sekt zur Höchstform pushen, während sie mitten in einem Nervenzusammenbruch stecken. Weg auch von der Beziehung zu einer in jeder Weise abwesenden Beziehungspartnerin. Nach einem Zusammenbruch gerät die Erzählerin in Pflege, ihre Pflegerin begleitet sie daraufhin auf ihrer Reise. Vereinzelung, stellt man fest, ist Ideologie; auf praktischer Ebene funkt der Mensch dem atomisierten Full-Speed-Kapitalismus zumindest insofern dazwischen, dass er nie ganz ohne die anderen auskommt und den Kontakt sucht, sei der auch noch so rudimentär und von Störsignalen unter Beschuss genommen.

Sorgearbeit in kalten Zeiten ist ein Grundstoff des Romans, die Abwälzung der gesellschaftlichen Reproduktion auf Frauen ist dabei so total, dass nicht nur kaum Männer in „Mirmar“ anwesend sind – auch nicht auf Firmenleitungsebene –, sogar wenn im Singular gegendert wird, ist es zum Beispiel „die Lkw-Fahrer*in“. Das Fürwort verrät das generische Femininum, das vielleicht nicht im Transportwesen, aber in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hierzulande statistisch gilt. Wer aber hinter all dem steckt, sei es das Patriarchat oder die Aneignung durch Ausbeutung der Arbeitskraft als Ware oder beides im Verbund und schlussendlich systemisch verzahnt, lässt Soppa aus. Auch dieser Blick ist verstellt.

„Mirmar“ entnimmt man Restsubjektivität und Spuren von Bewusstsein primär den sprachlichen Ausbrüchen des sonst opaken Stakkatos: „Dass mir wieder genauso so schwindelig wird, wie als die Ohnmacht herangerollt ist, wenn ich darüber nachdenke, dass ich meine Wohnung verlassen habe, dass ich die Verantwortungen verlassen habe und die Mahnungen sich seitdem mehren.“ Ein Zuviel an „so“, das „wie“ neben dem „als“ – schöne Lustigkeiten, sich im kaum als Handlung verifizierbaren Verlauf des Romans zunehmende Verweise darauf, dass sich Menschen nie in Gänze einverleiben lassen. Was nun mal passiert, wenn man zur Ware macht, was sich nicht als Ware eignet, nicht Ware sein will. Ein zu enges Korsett, in das man einen Menschen zwängt, führt zu Brüchen. Die Frage ist, an wem oder an was? Josefine Soppa lässt sie mit „Mirmar“ vorerst unbeantwortet.

1611 miramar - Verstellter Meeresblick - Aufbau-Verlag, Josefine Soppa, Mirmar - Kultur

Josefine Soppa
Mirmar
Aufbau-Verlag, 224 Seiten, 22 Euro

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"Verstellter Meeresblick", UZ vom 21. April 2023



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