Unter dem Eindruck der Masseninfektionen seiner Beschäftigten kündigte das Fleischimperium Tönnies am Dienstag weitreichende Maßnahmen an. Sie beinhalten die „Abschaffung von Werkverträgen in allen Kernbereichen der Fleischgewinnung – Direkteinstellung dieser Mitarbeiter in die Tönnies-Unternehmensgruppe“ und die „zügige Schaffung von ausreichendem und angemessenem Wohnraum für die Beschäftigten der Unternehmensgruppe an den Standorten“, „möglichst“ ab dem 1. Januar 2021. Tönnies fürchtet um die „gesellschaftliche Akzeptanz“ seiner Branche. Das hindert ihn aber nicht daran, selbst den konzerneigenen Beschäftigten einen Tarifvertrag zu verweigern.
Der Corona-Ausbruch bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück mit inzwischen mehr als 1.500 nachweislich infizierten „Mitarbeitern“ ist das Ergebnis gewollter Versäumnisse in der Vergangenheit.
Nichts ist neu an den Arbeits- und Lebensbedingungen der Kolleginnen und Kollegen in der fleischverarbeitenden Industrie, vorweg dabei Marktführer Tönnies. Die Stammbelegschaften werden in diesen Werken klein gehalten. Der überwiegende Teil der abhängig Beschäftigten kommt über Subunternehmer als Werkvertragsarbeiter in das Unternehmen. Dort werden entsprechende Tätigkeiten wie das Zerlegen abverlangt. Lohnabrechnungen von Verleihern sieht man keine.
Nach der harten körperlichen Knochenmaloche in den kühlen Schlachtbetrieben geht es mit dem Subunternehmer-Kleinbus, oft mit sechs bis acht Kolleginnen und Kollegen besetzt, ab zur Unterkunft. Das sind häufig völlig heruntergekommene Gasthöfe, uralte Hotels oder Wohnhäuser, natürlich auch vom Subunternehmer angemietet. „Sowohl für den Transfer vom Werk zur Unterkunft und für die Unterkunft zahlt der Kollege aus Osteuropa. Für die Unterbringung eines Arbeitnehmers reichen neun Quadratmeter aus, das entspricht der deutschen Rechtsnorm. Also werden Betten übereinandergestellt und es teilen sich vier bis sechs, oft auch sechs bis acht Kollegen einen Raum“, erläutert Ortwin Swiderski, der als DGB-Vorsitzender in Coesfeld Erfahrungen während der Ausbreitung der Pandemie bei den Beschäftigten von Westfleisch im Mai des Jahres sammelte.
Rechtsgrundlage sind die seit 2007 von der EU zugelassenen sogenannten Werkverträge, die der Unternehmer mit einem Subunternehmer abschließt, um mit dessen Hilfe lästigen „Sozialklimbim“ wie Kündigungsschutz und Sozialleistungen auszuhebeln. „Solche Werkverträge wuchern derzeit krebsartig und breiten sich flächendeckend über das ganze Land aus und ersetzen mehr und mehr die in Verruf geratene Leiharbeit. Des Pudels Kern hierfür ist die Einführung des Mindestlohnes für Leiharbeiter im Mai 2011. Um eben diesen Mindestlohn zu unterlaufen, treten immer mehr Unternehmen die Arbeit pro forma an ‚Dienstleistungs‘-Unternehmen ab und brauchen so auch auf Tarifverträge keine Rücksicht zu nehmen“, schrieb UZ in ihrer Ausgabe vom 10. August 2012, in der sie die Situation polnischer Werkvertragsarbeiterinnen bei Gustoland/Westfleisch in Oer-Erkenschwick dokumentierte. Das System ist also alt und floriert, nicht nur in der fleischverarbeitenden Industrie.
NRW-Ministerpräsident Laschet sorgte in der vergangenen Woche für Gesprächsstoff hinsichtlich der Lockerungen und der Ausbreitung der Pandemie bei Tönnies: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. Das wird überall passieren.“ Auch wenn Laschet danach zurückruderte und „substanzielle Verbesserungen bei den Bedingungen, insbesondere für Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien“ ankündigte, wird das die aktuellen Bilder nicht übertünchen: Ganze Wohnsiedlungen wie in Verl, die von ausländischen „Mitarbeitern“ des Fleischbetriebs Tönnies bewohnt werden müssen, sind in Quarantäne gesteckt und mit Stahlgittern abgeriegelt worden.
Für die Kreise Gütersloh und Warendorf verfügte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet am Dienstag einen neuen Lockdown. Der Ruhezustand gelte bis zum 30. Juni und werde „mehr Klarheit verschaffen“. Welche Klarheit über die Ursachen der Verbreitung des Virus innerhalb der Belegschaft von Tönnies braucht Laschet denn noch?