Simone Buchholz taucht in „Mexikoring“ in die Welt der Familienclans ein

Verspiegeltes Glas und keine Gnade

Von Bee

Simone Buchholz

Mexikoring

Suhrkamp Verlag, 2018

250 Seiten, 14,95 Euro

In Hamburg brennen die Autos. Überall brennen die Autos. „Du weißt genau, warum deine Autos brennen, Hamburg“. Am Mexikoring aber gibt es einen Toten. Nouri Saroukhan, Spross eines Bremer Clans, verbrennt in seinem alten Fiat. Er ist kein zufälliges Opfer, er wurde ermordet. Chastity Riley, Staatsanwältin auf dem Abstellgleis, leitet die Ermittlungen und stellt eine Soko zusammen. Mit dabei LKA-Mann Ivo Stepanovic, Kommissar Calabretta mit seinem Team vom Morddezernat und Lennat Rocktäschel, erster Polizist am Tatort, aufgewachsen in Bremen. Man teilt sich auf, die vom Mord nehmen Nouris Hamburger Umfeld unter die Lupe, die Uni und die Versicherung, bei der er nach dem abgebrochenem Jurastudium arbeitete. Chastity und Co. fahren nach Bremen, um die Familie nach möglichen Tatmotiven zu befragen.

Simone Buchholz hat sich tief in eine Parallelwelt eingearbeitet, deren Strukturen, Gesetze und Lebensentwürfe. Um diese darzustellen, nutzt sie die Unkenntnis der Hamburger, die von den Bremern ins Bild gesetzt werden. Die landläufige Meinung, es handele sich bei den Bremer Clans um Libanesen, wird als erstes zurechtgerückt. Weder Libanesen, noch Araber oder Türken sind da am Werk. Es sind Mhallamiye, die vor Jahrhunderten von den Türken als Schutzschild vor christlichen Jesiden im südlichen Teil der Türkei angesiedelt wurden, dafür bezahlt, jeden außerhalb ihrer Stammesstruktur als Feind zu sehen und zu bekämpfen. Nach diversen Vertreibungs- und Fluchtwellen landeten viele von ihnen in Deutschland, wo sie als libanesische oder kurdische Flüchtlinge registriert wurden. Deshalb die Rede von den libanesischen Clans. Mit Mafiafamilien haben sie nichts gemein. „Denn Mafia bedeutet immer, dass Politik und Wirtschaft infiltriert sind“, so der Bremer Kripochef. „Die haben noch gar nicht begriffen, dass man in Deutschland das große Geld nicht mit Drogen und ein paar Autoschiebereien macht, sondern mit VW.“ Wiederkehrende Familienstreitigkeiten und -fehden sind Folgen ihres Stammesdenkens. Hier könnte ein Tatmotiv zu finden sein. Der Besuch bei Vater Saroukhan, Chef eines der größten Clans der Stadt, ist weniger ergiebig. Man redet nicht mit der Polizei und schon gar nicht mit einer Staatsanwältin. Nur soviel wird klar, die Trauer hält sich in Grenzen, der Sohn Nouri wurde verstoßen, weil er sich den kriminellen Machenschaften seiner Familie entzog. Der Geldhahn wurde abgedreht, Nouri brach sein Jurastudium ab, verdiente als Versicherungsvertreter viel Geld. Die Brüder haben super Alibis, sie saßen nach einer Massenschlägerei bis morgens im Knast. Rocktäschels Ortskenntnisse machen sich bezahlt und führen Chastitys Truppe zu einer früheren Freundin von Nouri. Die aber ist seit Jahren verschwunden. Mit dieser mageren Erkenntnislage geht’s zurück nach Hamburg.

„Mexikoring“ ist auch eine Liebesgeschichte. In einem parallelen Erzählstrang erzählt Simone Buchholz von einer großen, einer unmöglichen, aussichtslosen Liebe. Nouri und Aliza, Kinder zweier verfeindeter Clans, begegnen sich zufällig, werden unzertrennlich. Beide sind sie Außenseiter in ihren Familien, desgleichen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Der Sohn des Saroukhan-Oberhaupts will der für ihn vorgesehenen kriminellen Zukunft entkommen. Seine schulischen Leistungen sind gut, er wird studieren und deshalb aus den Geschäften der Familie herausgehalten. Später soll er als Anwalt der Familie legal arbeiten können. Aliza geht einen schwereren Weg. Sie lehnt sich von Kindesbeinen an auf, ist widerborstig, wird dafür immer wieder geschlagen. „Wenn die Schläge kamen, machte sie die Augen zu und das Herz ganz fest und träumte sich weg.“ Sie ist wie Nouri. Nur sehr viel mutiger. Zusammen wollen die beiden abhauen. Und dann ist Aliza plötzlich verschwunden. Nouri geht zum Studium nach Hamburg und sucht unablässig nach seiner großen Liebe.

Auch Chastity liebt. Eine längst vergangene Liebe ist wieder da. Wie sie ist er versehrt, nur er ist es sogar äußerlich, ihm fehlt ein Arm. Chastitys Einsamkeit nimmt durch ihn ein bisschen ab, das Chaos nimmt zu. Stepanovic ist wichtig, eine Stütze, trotz oder wegen seiner eigenen Beschädigungen. Er liebt Chastity und sagt es ihr endlich. „Ein Schnapsglas fällt um, und aus ihrem Herzen läuft was aus.“

In Buchholz‘ Romanen gibt es keine Menschen ohne Blessuren. „Bei allen ist ja schon das eine oder andere Teil kaputtgegangen.“ Wie in den amerikanischen „Noirs“ der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts wird bei ihr zu viel geraucht und viel zu viel gesoffen. Verunsichert und verletzt versuchen ihre Protagonisten, die Leere zu betäuben, in einer Gesellschaft, die keine mehr sein will. Sie geben sich hartgesotten, maulfaul, werfen mit jeder Menge Sarkasmus um sich und verfolgen hartnäckig ihr Ziel. „Mexikoring“ ist um einiges düsterer, ja hoffnungsloser als seine Vorgänger. Geschuldet ist das den immer größeren Verwerfungen unserer Klassengesellschaft.

Die Clan-Spur ist kalt, eine andere wird sichtbar. Neue Verdächtige kommen hinzu. Und auch in Hamburg am Mexikoring ist Gier ein gutes Motiv.

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"Verspiegeltes Glas und keine Gnade", UZ vom 23. November 2018



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