Zum Tag der Befreiung im Zeichen des NATO-Krieges gegen Russland

Verordnete Unvernunft

Als Richard von Weizsäcker 1985 als erster führender Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland in einer Rede den 8. Mai als einen Tag der Befreiung charakterisierte, war die rechte und konservative Sicht auf die angebliche „Stunde Null“ vielleicht nicht überwunden, aber sie schien doch erheblich ins Wanken gebracht. Bis dato war in offiziellen Gedenkreden vom Tag der Kapitulation oder der Niederlage die Rede gewesen.

Von Weizsäckers Neubestimmung des weltgeschichtlichen Ereignisses war derweil den Gegebenheiten geschuldet. Sie hatte durchaus mit Einsichten desjenigen Kapitals zu tun, das Ostgeschäfte machen wollte, und sie war daher auch eine Umsetzung der wirtschaftspolitischen Wünsche der Herrschenden. Denn wer den Tag als Befreiung empfunden hatte, hatte dies auch in der BRD schon vier Jahrzehnte lang getan; wer jünger war, konnte solches demokratisches Bewusstsein von älteren Gewerkschaftern, Sozialdemokraten oder Kommunisten lernen. Ein Gefühl der Befreiung war unabhängig von der offiziellen Geschichtsklitterung bei den überlebenden Häftlingen in KZs und Strafanstalten lebendig und bei allen Demokratinnen und Demokraten verbreitet. Dass Arbeiterkinder studieren konnten, war nicht dem Wohlwollen der BRD, sondern der Existenz der DDR zu verdanken – und die war der deutlichste Hinweis darauf, dass es sich 1945 um eine Befreiung und keine Niederlage gehandelt hatte. Ganz abgesehen vom Blick auf das Ereignis in den überfallenen und geknechteten Völker Europas und der Welt, der in Westdeutschland kaum eine Rolle spielte.

Von den NSDAP-Leuten Scheel und Carstens im Bundespräsidentenamt war keine Unterstützung der sozialliberalen, realitätsorientierten Ostpolitik zu erwarten. Von Weizsäcker schien nun diejenigen mitnehmen zu wollen, die bis dato nicht mit einer Deutschen Demokratischen Republik leben wollten. Ziemlich genau viereinhalb Jahre später zeigte sich, dass der kreißende Berg eine Maus geboren hatte: Ende 1989 begann das Rollback. Nach dem Verunglimpfen des „verordneten Antifaschismus“ des Friedensstaats DDR wurde das Hätscheln und Versorgen von reaktionären und faschistischen Kräften in Vietnam, Chile oder Südafrika ab 1992 im Jugoslawienkrieg instinktsicher auf eine höhere Ebene geführt und mit der Betreuung von NPD-Fan Nawalny als Frontmann gegen Russlands Regierung fortgesetzt.

Nichts passiert zufällig, sondern in tragischer Folgerichtigkeit und konsequent mit der eigenen Geschichte, wenn Lernen verpönt ist. Die Bundesregierung schickt Leopard-Panzer an das Militär eines Landes, das als einziges in der Welt nazistische Bataillone unterhält – und das den 9. Mai neben dem 8. März und dem 1. Mai aus seinem Feiertagskalender streichen will. Die im vergangenen Jahr am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow auf die Spitze getriebene Unterdrückung des auf Völkerfreundschaft gerichteten Gedenkens des 8. Mai als einzig rationale Konsequenz aus Massenmorden und faschistischem Weltkrieg soll Normalität werden.

Die Medien haben die Hauptrolle bei der verordneten Antivernunft. Wer sich in irgendeiner Form gegen die Aufrüstung einer den Massenmörder Stepan Bandera verehrenden und die russischstämmige Minderheit im Osten der Ukraine bombardierenden Soldateska oder für Friedensverhandlungen ausspricht, wird verunglimpft. Vom 8. Mai als einem Tag der Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus kann nicht sprechen, wer sich mit Neonazis gemein macht. Das Verständnis des 8. Mai verlangt, die Friedenskräfte in die Regierungen zu bringen – ihn europaweit als Feiertag zu etablieren, wäre ein richtiger Schritt zu einer dauerhaften Friedensordnung.

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"Verordnete Unvernunft", UZ vom 5. Mai 2023



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