Der Diplom-Mathematiker Sebastian Bahlo wurde auf dem Verbandstag des Deutschen Freidenker-Verbandes Ende Juni dieses Jahres zum neuen Vorsitzenden gewählt. Er löst Klaus Hartmann ab, der nach 33 Jahren im Amt nicht mehr antrat. Anhand dreier umfangreicher Anträge bestimmte der Verbandstag die Ausrichtung der Organisation für die kommenden Jahre.
UZ: Sebastian, was hat dich motiviert, für den Vorsitz der Freidenker zu kandidieren?
Sebastian Bahlo: Der Name Freidenker war früher eine Selbstbezeichnung für Atheisten. Mitglieder und Interessenten wollen Freies Denken heute in einem erweiterten Sinne verstehen: rationales Denken, das sich auf nachprüfbare Evidenz, auf Logik statt auf Scheinlogik stützt und sich seine Grundannahmen weder von religiösem Glauben noch von gesellschaftlicher Opportunität und politisch-medial forcierten Denkvorgaben und -verboten diktieren lässt. Tatsächlich sehen wir gerade unter den Bedingungen krisenhafter Zuspitzung in der Förderung des Freien Denkens in diesem verallgemeinerten Sinn eine dringend notwendige Aufgabe, um der Selbstverständigung der Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts zu dienen.
UZ: Klaus, bei deiner Wahl 1988 sah die Welt noch ganz anders aus. Was sind deine drei wichtigsten Erkenntnisse aus deiner Amtszeit?
Klaus Hartmann: 1988 warf die bevorstehende Konterrevolution ihre Schatten voraus: Verunsicherung bis zur Gehirnerweichung bei vielen Linken. Die Freidenker haben in der rauen See Kurs gehalten, sich keiner Diskussion über Fehler verweigert, ohne opportunistisches Überlaufen zu den einstweiligen „Siegern“. Wir bestanden darauf: Die sozialistischen Ideale bleiben gültig, der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte, eine menschliche Gesellschaft kann es nur mit gesellschaftlichem Eigentum an den Hauptproduktionsmitteln und gesamtgesellschaftlicher Planung geben.
Auf dieser Grundlage sind wir an den Zusammenschluss mit den Freidenkern der DDR 1991 gegangen: Anerkennung der Erfahrungen, Positionen und Lebensleistung der Genossen. Wir hatten eine echte Vereinigung: gleichberechtigt und paritätisch, keine Übernahme im Kolonialherrenstil der Regierenden.
Gerade angesichts der Delegitimierungsversuche gegenüber der DDR betonten wir die Gültigkeit der Devise: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ Und wir bekräftigten angesichts der NATO-Aggression gegen Jugoslawien und der vielen folgenden Kriege des Imperialismus: Wir sind und bleiben eine antiimperialistische Organisation, die ohne „Äquidistanz“ den Aggressor anklagt und mit den Opfern solidarisch ist.
UZ: Die Friedensfrage spielte auf eurer Tagung eine große Rolle. Wie schätzt ihr die weltpolitische Lage eine?
Sebastian Bahlo: Wir erleben derzeit aggressiver werdende imperialistische Mächte und die wachsende Stärke der Länder, deren Ziel Stabilität und gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung ist. Die VR China ist auf dem Weg zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht, und sie wird das erste Land in dieser Position sein, dessen oberstes Ziel das Wohl seiner gesamten Bevölkerung ist und dessen Regierung nicht von einer kleinen Monopolistenklasse zu kriminellen Kriegsabenteuern getrieben wird. Auch die Großmacht Russland verfolgt eine besonnene, friedenssichernde Politik. Viele kleinere Länder profitieren wirtschaftlich und außenpolitisch davon, dass ihnen Russland und die VR China eine Alternative zu wirtschaftlicher und militärischer Erpressung durch die alten kapitalistischen Mächte bieten. Naturgemäß ruft dieser Fortschritt aber die gesteigerte Aggressivität der Imperialisten hervor, die dem Schwinden ihrer Einflusssphären nicht kampflos zusehen wollen. NATO-Osterweiterung, Krieg in der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und Weißrussland, Provokationen im Südchinesischen Meer zeigen die Richtung an.
Klaus Hartmann: Wir erleben einen Geschichtsrevisionismus, dessen Speerspitze nicht die AfD bildet, sondern das von vielen Linken hochgeschätzte EU-Parlament: 2019 hat es in einer skandalösen Resolution Hitler und Stalin gemeinsam die Schuld am Zweiten Weltkrieg gegeben, in offenem Widerspruch zum Ergebnis der Nürnberger Prozesse. Zum 80. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion galt: „Einen Tag lang schämen, dann wieder schamlos hetzen.“
UZ: Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Friedensbewegung?
Sebastian Bahlo: Strategisch ist eine klare Stoßrichtung gegen den Imperialismus und sein wichtigstes Werkzeug, die NATO, nötig. Die deutsche Friedensbewegung muss den Austritt Deutschlands aus der NATO und den Abzug ausländischer NATO-Streitkräfte aus Deutschland fordern. Ideologisch gilt es, die Gleichsetzung von imperialistischen und friedenssichernden Großmächten zu überwinden. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die verbreitete Fokussierung auf Abrüstung zu bewerten. So notwendig es ist, Abrüstung zu fordern, so wichtig ist es auch, zu verstehen, dass Krieg von Menschen gemacht wird und nicht von Waffen. Und wer zum Beispiel in seiner Sehnsucht nach einer atomwaffenfreien Welt nicht den Unterschied zwischen US-amerikanischen und russischen Atomwaffen sieht, der kann schnell in reaktionäres Fahrwasser geraten.
Klaus Hartmann: „Frieden mit Russland und China!“ muss zum zentralen Konsens werden. Es gilt, dem neuen geheimdienstlichen Dreh entgegenzutreten, einen Keil zwischen vermeintlich akzeptierter Russland-Verständigung und andererseits neuem China-Bashing zu treiben. Das strategische Ziel der Spalter ist, Russland von der VR China zu trennen. Dagegen setzen wir: Das vertiefte Zusammenwirken von Russland und der VR China nutzt allen fortschrittlichen und revolutionären Kräften. Der Klassengegner weiß das genau, auf unserer Seite hapert es noch. Und es gilt, sich einer „nostalgischen“ Illusion zu erwehren: dass die Grünen noch irgendwie links oder friedensbewegt seien. Aktuell ist keine Partei so „transatlantisch“ wie der Baerbock-Verein. „Wer Grüne wählt, wählt Krieg“ ist daher eine völlig zutreffende Aussage.
Was die Friedensbewegung noch verstehen muss: Wer für Abrüstung ist, wer den Abzug der NATO-Truppen unterstützt, wer Frieden mit Russland und der VR China will und wer „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ unterschreibt, gehört zu uns. Wie er oder sie zu Corona, zum Klima, zur Homo-Ehe oder zur Ernährungsweise steht, hat damit nichts zu tun.
UZ: Ihr habt auch ein Thesenpapier mit der Überschrift „Freidenker und Medien“ diskutiert. Was habt ihr zu dem Thema beschlossen?
Klaus Hartmann: Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Massenmedien die Kanzeln in Sachen Volksverdummung längst abgelöst haben. Daher bekämpfen Freidenker den Irrationalismus nicht nur in seiner religiösen, sondern vorrangig in seiner weltlichen Gestalt. Wir erleben aktuell, wie Medien alle Proteste gegen das Corona-Regime unter dem Sammelbegriff „Querdenker“ als „rechts“ labeln, mit der Tendenz, jede Regierungskritik als „voll Nazi“ zu diskreditieren. Wir unterstützen die Verteidigung demokratischer Rechte, nicht aber jene, die eine „demokratische Revolution von 1989 vollenden“ wollen oder gegen die VR China hetzen.
Wir widersetzen uns der auch bei „Lifestyle-Linken“ beliebten Praxis, Andersdenkende als „Verschwörungstheoretiker“ oder „Antisemiten“ aus der Diskussion auszugrenzen. Einen Prozentsatz von Spinnern erleben wir bei vielen Demonstrationen, er ist aber nie so hoch wie im Bundestag und in der Bundesregierung. Der verschärften Zensur, „outgesourct“ an die großen Internetkonzerne, muss geschlossen entgegengetreten werden. Die Strategie der Herrschenden ist, durch multiple Spaltungen, die sowohl real als auch ideologisch stattfinden, das Bewusstsein vom Klassengegensatz zum Verschwinden zu bringen.
Sebastian Bahlo: Das Papier trägt der Tatsache Rechnung, dass die Medien ein immer wichtiger werdendes Instrument der Steuerung der Bevölkerung werden und die einflussreichsten Medienmacher gleichzeitig die Diskussion über die Medien dominieren. Es geht in erster Linie um die Erhöhung des Problembewusstseins. So sprechen wir uns klar dagegen aus, die zutreffende Charakterisierung „Lügenpresse“ als angeblich „rechts“ zu tabuisieren. Es ist auch ein schweres Defizit, dass Menschen, die dagegen protestieren wollen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit ihren Gebühren Regierungspropaganda macht, hauptsächlich im esoterisch-rechtsaffinen Bereich Ansprechpartner finden, obwohl auf diesem Feld dringend die historisch-materialistische Aufklärung arbeiten müsste. Zentral ist aber die Rolle der „sozialen Medien“, die immer größere Bedeutung für die Massenkommunikation gewinnen. Die wenigen Konzerne, denen die Betriebsmittel dieser Netzwerke gehören, üben einen qualitativ neuartigen Einfluss auf das Massenbewusstsein aus. Symptomatisch ist ihre Zensurpraxis, mit der sie nach Gutdünken entscheiden, welche Nutzerbeiträge erlaubt sind und welche ihren Standards widersprechen. Manipulativ wird auch der Begriff „Hass“ verwendet, indem ein gedanklicher Zusammenhang zwischen dem Online-Mobbing von Teenagern und scharfer Regierungskritik hergestellt wird. Das bildet die Spitze des Eisbergs; man muss verstehen, dass die „sozialen Medien“ durch ein komplexes System von Mechanismen tief in den Prozess der individuellen Meinungsbildung eingreifen. Dagegen hilft keine Empörung, und auch gegen das Grundproblem des Privateigentums weniger Monopolisten an diesen Medien kann man momentan nichts machen. Als einzigen Ausweg betrachten wir verstärkte Anstrengungen zur Schaffung „öffentlicher Räume im Netz“, wie wir es genannt haben, Vereine zum Betrieb Sozialer Medien, bei denen sich Hard- und Software im kollektiven Besitz der Nutzer befinden und deren Funktionsweisen und Regelwerke unter deren demokratisch ausgeübter Kontrolle stehen. Das wird für den Anfang nur mit bescheidenen Mitteln und kleinen Datenmengen möglich sein, etwa nur mit Textnachrichten. Aber es wäre eben ein notwendiger Anfang.
UZ: Als Freidenker-Verband versteht ihr euch als Weltanschauungsgemeinschaft und Interessenvertretung konfessionsfreier Menschen. Wir leben in einem Land, in dem die christliche Religion zur Herrschaftssicherung genutzt wird und die christlichen Kirchen großen Einfluss über Eigentum als auch ihre Unternehmen im Sozialbereich haben. Euer Verbandstag hat den Vorstand beauftragt, ein Forderungsprogramm zur Trennung von Staat und Kirche zu entwickeln. Gab es dazu schon erste Debatten?
Sebastian Bahlo: Wir wollen unsere lange vorliegenden Forderungen kompakt bündeln, um dem Thema größeres Gewicht zu geben. Es geht um die inakzeptable Praxis des staatlichen Kirchensteuereinzugs, zusätzliche staatliche Kirchenfinanzierung, Bevorrechtung kirchlicher Unternehmen – insbesondere den faktischen Zwang für deren Beschäftigte, Kirchenmitglieder zu sein –, konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Einfluss der Kirchen auf die Rundfunkgestaltung. Gegen die gewachsene Rolle des Christentums in unserer Kultur führen wir natürlich keinen Frontalangriff, nur gegen unbegründete Privilegien sowie Intoleranz gegenüber Freidenkern und Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften.
Klaus Hartmann: Schon vor mehr als 100 Jahren traten die Freidenker für die Straffreiheit der Abtreibung ein, heute dafür, dass Priester, die Kinder missbrauchen, sich vor einem staatlichen Gericht verantworten müssen. Auch andere Fragen gewannen in letzter Zeit an Bedeutung: Wir arbeiten mit anderen säkularen Verbänden in einem Bündnis zur Abschaffung „altrechtlicher Staatsleistungen“. Was sich so dröge anhört: Bis heute erhalten die Kirchen jährlich rund 550 Millionen Euro als „Entschädigung“ für unter Napoleon enteignete Kirchengüter.
„Corona“ hat es wieder ins Bewusstsein gerückt: Daseinsvorsorge gehört in öffentliche Hand! Doch in den letzten Jahrzehnten ging der Trend zu profitablen, privaten Wohlfahrtskonzernen. Die Kirchen machten dabei einen großen Schnitt, besonders durch die Aneignung von Kliniken in der DDR. Dies verbunden mit der Entrechtung der Beschäftigten, für die weder Tarif- noch Betriebsverfassungsrecht gilt.
Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient die „Militärseelsorge“: Nach dem Umbau der Bundeswehr zur Aggressions- und Interventionsarmee rüsten die „Seelsorger“ die Kampfmoral der „Soldaten im Einsatz“ auf. Während freireligiös-humanistische Verbände „gleichgestellt“ mit den Kirchen mitmachen wollen, fordern wir die ersatzlose Abschaffung. Das sind wir auch unserer antimilitaristischen Tradition und antiimperialistischen Aufgabenstellung schuldig.
Das Gespräch führte Björn Blach