Ken Loachs Film „I, Daniel Blake“

Vermächtnis der Machtlosen

Von Hans-Günther Dicks

Eigentlich hatte der vielfach ausgezeichnete britische Regisseur Ken Loach schon seinen verdienten Abschied aus dem aktiven Filmbetrieb nehmen wollen. Dass er nun, 80-jährig, doch wieder einen neuen Film gedreht hat, darf man getrost den verschärften sozialen Konflikten in seinem Land zuschreiben, die auch viele seiner früheren Werke geprägt haben. „I, Daniel Blake“ heißt seine neue Anklage gegen die Sozialpolitik der konservativen Regierung, und wer von dem kämpferischen Linken Loach nun altersweise Mäßigung oder gar Resignation erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt.

Noch bevor die ersten Bilder auf der Leinwand erscheinen, liefert Loach ein kleines Bravourstück seiner Inszenierung, sozusagen die Essenz des ganzen Films: Nur zu hören ist ein Dialog zwischen der Titelfigur Daniel Blake und einer Dame vom Gesundheitsamt, die seinen Anspruch auf Sozialleistungen prüfen soll – nein, kein Dialog, eher zwei parallele Monologe, denn während Blake über seinen kürzlich überstandenen Herzinfarkt reden will, muss die Dame einen Katalog absurder Fragen im Antragsformular abarbeiten, deren Ziel es ist, Blake für arbeitsfähig zu erklären – entgegen ärztlichem Befund.

Die Fronten sind damit geklärt, und Loach und sein Stammautor Paul Laverty lassen niemanden im Unklaren, auf welcher Seite sie stehen: auf der Seite der Underdogs, solcher wie der Zimmermann Blake oder die junge Mutter Katie mit ihren zwei Kindern von zwei Vätern. Im teuren London verlor sie ihre Wohnung wegen einer Beschwerde, nun muss sie erleben, dass auch im billigeren Newcastle am Ende des Geldes noch zuviel Monat übrig ist und gegen den Hunger auch die kostenlosen Tafeln nur wenig helfen. Als sie mit ihrem Anliegen an zwei bornierten Ordnern abprallt, springt Blake wie ein Kavalier alter Schule ihr zur Seite, erfolglos auch er, aber sein Geschick als Handwerker kommt Katie ganz gelegen – zwei Ertrinkende, die sich an den Strohhalm klammern …

Loach, in Nuneaton in Mittelengland geboren, kennt sich aus unter den einfachen Leuten der Unter- und unteren Mittelschicht seines Landes, er hat mit Drehbuchautor Laverty in Sozialämtern und Tafeln recherchiert und versteht ihre Sprache. Sein Prinzip, bei der Besetzung auf bekannte Gesichter zu verzichten, geht mit Dave Jones als Blake und der jungen Hailey Squires als Katie voll auf, schafft seinem Film die richtige Mischung aus Realismus, Bodenständigkeit und Humor. Dass ihm auf der Gegenseite einige der Amtspersonen hier und da ein wenig klischeehaft geraten sind, ist verzeihlich – die Sozialbürokratie kann ohne Klischees und Routine den Andrang nicht bewältigen und eine Angestellte, die mehr als nur abfertigen will, wird von der Chefin sofort zurückgepfiffen. So ist die soziale Rutschbahn für Blake und Katie vorgezeichnet, und auf der gibt es kein Happyend.

Laverty hat erzählt, eine verstärkte Hetzkampagne rechter Zeitungen in Großbritannien gegen Sozialhilfeempfänger sei der Anlass für Loach gewesen, das Thema wieder aufzugreifen, das er schon mehrfach behandelt hatte (1966 zuerst in „Cathy come home“). Vor diesem Hintergrund bekommt eine fast kuriose Szene im Film besonderes Gewicht. Von den ständigen Absagen genervt, vom endlosen Ämtermarathon auch physisch am Ende, sprayt Blake seinen Protest an die Häuserwand gegenüber dem Amt: I, Daniel Blake, sein trotziges Graffito, das Loachs Film den Titel gab und aus der Versicherungs- und Aktennummer wieder einen lebendigen, Respekt fordernden Menschen macht. Und siehe da! Während die Polizei gegen Blake und seine Unterstützer das Hausrecht des Amtes durchsetzt und den Pressefotografen die Bilder für die Kampagnen liefert, spenden Passanten und neugierige Zuschauer, die Blake und seinesgleichen sonst kaum wahrgenommen hätten, dem Helden mit der Spraydose nun Beifall – aus sicherer Entfernung, versteht sich.

Man hat Loachs Filmen gelegentlich eine gewisse Plakativität vorgeworfen, und in der Tat gerät ihm vor allem in seinen „internationalistischen“ Filmen über Nicaragua („Carla‘s Song“ 1996), den Spanischen Krieg („Land and Freedom“ 1995) und die Gewerkschaftsbewegung in den USA („Bread and Roses“ 2000) so manche Parole in die Dialoge, manch hohles Pathos in sein politisches Bekenntnis. Nichts von alledem findet sich in seinem neuen Meisterwerk. Die Anonymität und Sprache der Ämter, das Wechselspiel von Ratschlägen und harten Sanktionen, das nur Ausdruck von Hilflosigkeit ist, die Gleichgültigkeit der noch nicht Betroffenen, aber auch die praktische Solidarität der durch das soziale Netz Gefallenen – all das fügt sich hier nahtlos zum Panorama einer Gesellschaft ohne Zukunft. Und gerade die unaufgeregte, verhaltene Tonlage, die Loach und Laverty bis fast zum Ende durchhalten, macht die Schlussszene zu einem wahren Tsunami emotionaler Erschütterung, bei dem auch Hartgesottene zum Taschentuch greifen.

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"Vermächtnis der Machtlosen", UZ vom 25. November 2016



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