Vierzehnter Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Verteidiger wirft Zeugin Falschaussage vor und beschimpft Journalisten

Verlogener Verteidiger

Drei der fünf angeklagten Polizeibeamte haben sich bislang zur Sache eingelassen: Einsatzleiter Thorsten H. und Markus B. am elften, Todesschütze Fabian S. am 13. Verhandlungstag. Ob sich Jeannine Denise B. und Pia Katharina B. überhaupt zu den Vorwürfen gegen sie äußern wollen, haben ihre Strafverteidiger bislang offen gehalten. Einen Tag vor dem 14. Verhandlungstag informierte Lars Brögeler, Verteidiger von Jeannine Denise B., das Gericht: Seine Mandantin gedenke, sich am 5. Juni zu äußern.

Der 14. Prozesstag beginnt mit Verspätung – das ist der Unpünktlichkeit Brögelers geschuldet. Jeannine Denise B. ist wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt. Sie soll den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed Dramé mit Pfefferspray angegriffen haben, während er in einer Nische eines geschlossenen Innenhofs einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt kauerte. Dramé befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation und hielt sich ein Küchenmesser an den Bauch. Keiner der bislang vernommenen Zeugen hielt Mouhamed Dramé für gefährlich. Zwei Mitarbeiterinnen der Jugendhilfeeinrichtung, die später an diesem 14. Verhandlungstag aussagen, bestätigen: Ihrer Einschätzung nach war der Jugendliche höchstens eine Gefahr für sich selbst.

Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm erteilt Jeannine Denise B. das Wort und bittet sie, sich kurz vorzustellen und den Einsatz an jenem 8. August 2022, der für Mouhamed Dramé tödlich endete, aus ihrer Sicht zu schildern. B. spricht leise, mit dünner Stimme. Sie war an jenem Tag mit Markus B., der ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt ist, und einer Auszubildenden auf Streife. Das Trio traf relativ spät am Tatort ein. Jeannine B. bekam den Auftrag, ein RSG-8 aus dem Streifenwagen zu holen und aufzurüsten. „RSG“ steht für Reizstoffsprühgerät. Der Hersteller Hoernecke bewirbt es auf seiner Website als „leistungsstarkes Abwehrsystem für den professionellen Einsatz“.

B. sollte mit ihren beiden Kollegen zwecks „Sicherung“ Stellung auf der Missundestraße beziehen – gegenüber von Mouhamed, durch Büsche und einen Zaun von ihm getrennt. Mouhamed Dramé habe sie nicht gesehen, erzählt B. Einsatzleiter H. habe ihr über Funk dessen Standort mitgeteilt. Sie sah ihn erst, als sie an den Zaun trat, um ihn mit Pfefferspray anzugreifen. Er habe zu Boden geblickt. Auch das Messer, das Mouhamed in der Hand hielt, habe sie nicht gesehen. „Ich wusste aber, dass er eins hat.“ Sie habe keinen Anspracheversuch mitbekommen, sich keinen Überblick über den Innenhof verschafft und nicht gewusst, dass er in einer Sackgasse stand, räumt sie auf Nachfragen ein. Einsatzleiter H. habe den Einsatz des Pfeffersprays sowohl via Funk als auch durch Zuruf angeordnet. Gegenüber Mouhamed Dramé habe sie den Einsatz des Reizgases nicht angedroht, „weil der schlagartig erfolgen sollte.“ Sie habe aus etwa vier Metern Entfernung so lange gesprüht, bis sie eine Reaktion habe wahrnehmen können. Der Jugendliche habe sich nicht an die Augen gefasst, sei „aufgesprungen“. In diesem Moment habe ihr Kollege Markus B. ihn getasert. Ob Mouhamed sich schnell oder langsam auf die Beamten zubewegte, wisse sie nicht. Sie habe Knallgeräusche gehört und über Funk erfahren, dass geschossen wurde.

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Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes (links) vertritt zusammen mit Lisa Grüter (nicht im Bild) die Nebenkläger, Mouhamed Dramés Brüder Sidy (Mitte) und Lassana (zweiter von rechts). Rechtsanwalt Peter Budde (zweiter von links) vertrat Grüter am 14. Prozesstag. (Foto: Valentin Zill)

Die Anordnung, Mouhamed Dramé „einzupfeffern“, habe sie nicht hinterfragt, sagt Jeannine B. Später habe sie gehört, sie hätte eine „halbe Flasche verschossen“. Dann sagt B. einen Satz, den sie noch mehrfach wiederholen wird: „Im Nachhinein fragt man sich natürlich: Hätte ich nicht besser treffen müssen mit dem Pfeffer?“ Rechtsanwalt Peter Budde vertritt heute Lisa Grüter als Vertreter der Nebenkläger. Er bohrt später nach: Habe B. sich nicht überlegt, sich dem Befehl zu widersetzen? Die Polizeibeamtin kämpft mit den Tränen, schüttelt den Kopf, beantwortet Buddes Frage aber nicht. Der Anwalt fragt sie, ob es Personengruppen gebe, bei denen Reizgas nicht eingesetzt werden dürfe. „Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen“, sagt B., „auf psychisch Kranke.“ Darum sei es nicht gegangen. „Wir wollten ihn dazu bewegen, das Messer wegzulegen, um ihn zu schützen.“ Auf gezielte Nachfrage bestätigt sie, dass Pfefferspray nicht gegen alkoholisierte Personen, nicht gegen Menschen „auf Drogen“ und solche in psychischen Ausnahmesituationen eingesetzt werden dürfe. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der ebenfalls die Nebenklage vertritt, möchte von ihr wissen, ob Mouhamed Dramé „apathisch“ gewirkt habe. „Das Gefühl, dass er in einer anderen Lage war, hatte ich schon“, antwortet Jeannine B.

Richter Thomas Kelm zeigt sich irritiert über das Protokoll ihrer Vernehmung durch die Polizei Recklinghausen kurz nach der Tat. Zweieinhalb bis drei Stunden habe ihre Vernehmung gedauert, schätzt B. Das Protokoll davon ist eineinhalb Seiten lang. Die Diskrepanz vermag B. nicht zu erklären.

Gut eine Stunde dauert die Einlassung und Befragung von Jeannine Denise B. Dann lässt Richter Kelm die erste Zeugin des Tages in den Saal kommen: Eine 29-jährige Sozialarbeiterin, die in der Jugendhilfeeinrichtung arbeitet, in der Mouhamed Lamine Dramé untergebracht war. Zum Tatzeitpunkt war sie noch Studentin.

Die Zeugin berichtet von einem Ausflug mit Mouhamed Dramé zu einem Trampolinpark in Dortmund. Dabei sei er „gut drauf“ gewesen. Der Jugendliche habe ansonsten Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgewiesen, die wohl mit seiner Fluchterfahrung zusammenhingen, vermutet die Zeugin. Er habe eine große Narbe im Nacken gehabt, die wohl auf der Flucht entstanden sei.

Den Tathergang habe sie sie aus dem Wohnzimmer der Jugendhilfeeinrichtung verfolgt, berichtet die Zeugin. Dort habe sie auf Jugendliche der Wohngruppe aufpassen sollen. Immer mehr Polizisten hätten sich im Innenhof der Einrichtung versammelt. Ab dem Pfeffersprayeinsatz sei alles „sehr schnell“ gegangen. Mouhamed sei an dem im Innenhof geparkten Wagen vorbeigegangen, dann seien Schüsse gefallen. Sie sei davon ausgegangen, dass er mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen sei, weil er stark geblutet habe.

Mouhamed Dramé sei nach dem Reizgaseinsatz langsam auf die Polizisten zu gegangen, das betont die Zeugin mehrfach. Er sei sehr sportlich gewesen und gerne schnell gegangen, in dieser Situation aber nicht. „Er ist langsam gegangen, hatte das Messer auf keinen gerichtet. Es hing nach unten.“ Er habe die Arme nicht erhoben gehabt. Richter Kelm hält ihr eine Aussage vor, die sie nach der Erschießung Dramés bei der Polizei Recklinghausen gemacht hatte. Demnach sei der Jugendliche auf Höhe des geparkten Smarts „schneller geworden“. Die Zeugin besteht darauf: Mouhamed sei langsam gegangen und sei „nicht ansatzweise ins Rennen gekommen“.

Sie berichtet auch, dass „der große Herr mit der Glatze“ – gemeint ist der Einsatzleiter Thorsten H. – Mouhamed getreten habe, als der bereits niedergeschossen auf dem Boden lag. Das sei ein Treten gewesen, kein Fixieren, betont sie. „Der hat Schwung genommen, als würde er gegen einen Ball treten.“ Zu dem Zeitpunkt sei Mouhamed bereits fixiert gewesen, mit den Armen auf dem Rücken, „wie ein Päckchen“.

Die Aussage der Zeugin steht in Widerspruch zu dem, was die Angeklagten und deren Kollegen im Zeugenstand bislang ausgesagt haben. Sie bestätigt allerdings die Aussage ihres Kollegen P. Der hatte am dritten und fünften Prozesstag ausgesagt und war von der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern der Angeklagten hart in die Mangel genommen worden.

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Oberstaatsanwalt Carsten Dombert (links) und Staatsanwältin Gülkiz Yazir (rechts) beraten sich vor dem 14. Verhandlungstag. (Foto: Valentin Zill)

Die knöpfen sich jetzt die Zeugin vor. Sie macht einen kompetenten Eindruck, hat sicher ausgesagt, wirkte dabei menschlich. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert bohrt ungeduldig nach: Bei der Polizei habe sie doch gesagt, Herr Dramé sei vor dem Smart schneller geworden. Unter Tränen sagt die Zeugin, Mouhamed sei zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für irgendwen gewesen. Ob sie die Wahrheit gesagt habe bei der Polizei, fragt Dombert. „Ja, das habe ich. Er ist langsam gegangen und wurde dann etwas schneller. Ich habe damals klar gesagt, dass er nicht gerannt ist.“ Dombert insistiert: Der geparkte Smart müsse ihr die Sicht verdeckt haben. „Wie wollen Sie das dann gesehen haben?“ Der Smart habe eineinhalb bis zwei Meter von der Hauswand entfernt geparkt, hinter der Mouhamed Dramé hervor kam. „Ich konnte gut sehen“, antwortet die Zeugin. Aussagen von Polizisten zufolge soll zwischen der Wand und dem Smart ein Beamter in Zivil gestanden haben. Daran kann sich die Zeugin nicht erinnern.

Sie berichtet auch, dass Mouhamed Dramé sich am Abend vor seiner Erschießung Hilfe gesucht hat – auf der Polizeiwache Nord, „er wusste ja nicht, wo die Klinik ist“. Nicht jeder Jugendliche hole sich selbst Hilfe, lobt sie Mouhamed.

Nach einem Reingrätschen von Oberstaatsanwalt Dombert, von den Vertretern der Nebenkläger gestattet, kommt es zu einem Streit zwischen Dombert, Feltes und Budde. Die beiden verbitten sich weitere Nebenfragen.

Auch die zweite Zeugin arbeitet in der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Sie studiert noch Soziale Arbeit, ist 23 Jahre alt und wirkt schüchtern. Mouhamed Dramé habe gerne im Garten der Einrichtung gesessen und Musik gehört, erzählt sie. In Gruppen habe er sich öfter zurückgezogen. Bei den Ausflügen aber sei er dabei gewesen und habe sich eingebracht. Nachdem ihr Chef Alexander Gast die Polizei gerufen habe, sei sie zunächst im Innenhof geblieben. Zwei Männer seien auf das Gelände gekommen, „die etwas komisch gekleidet waren“. Sie habe nicht gewusst, dass es sich um Polizisten in Zivil handelte und habe die beiden aufgefordert, das Privatgelände zu verlassen. Die Männer seien dann mit uniformierten Kollegen zusammen zurückgekommen. Sie sei dann zu ihrer Kollegin ins Wohnzimmer der Einrichtung gegangen. Dort habe sie beobachtet, wie eine Polizistin mit einem Taser hantierte. „Das schien nicht gut zu funktionieren.“ Viel mehr weiß sie nicht zu berichten. Schon bei der Polizei Recklinghausen, geht aus einer Vorhaltung des Richters Kelm hervor, habe sie ausgesagt, „die ganze Sequenz sei mehr oder weniger weg“.

Deshalb wird die zweite Zeugin schneller entlassen. Jan-Henrik Heinz, Strafverteidiger der Angeklagten Pia Katharina B., möchte wissen, ob sie Angst um sich und die Jugendlichen gehabt habe. „Nein“, sagt die Zeugin bestimmt. Sie hat die Arme vor dem Bauch verschränkt, fühlt sich sichtbar unwohl, wirkt eingeschüchtert und zittert. Es sei einfach eine komische Situation gewesen mit so vielen schwer bewaffneten Polizisten, deshalb habe sie die Tür zum Innenhof geschlossen.

Markus B. räkelt sich auf seinem Stuhl. Er hat wieder sein überhebliches Grinsen aufgesetzt, dass ihm nur aus dem Gesicht weicht, wenn Nebenklagevertreter aus seinen WhatsApp-Nachrichten zitieren.

Es ist 11.50 Uhr. Jetzt könne man Schluss machen für heute, sagt der Vorsitzende Richter Thomas Kelm, als sich doch noch jemand zu Wort meldet.

Lars Brögeler möchte eine Prozesserklärung abgeben. Er wirft der ersten Zeugin eine intentionale Falschaussage vor. Die Tür vom Wohnzimmer zum Innenhof sei geschlossen gewesen. Dass die Fenster gekippt waren und die Zeuginnen so mühelos hören konnten, was im Innenhof vor sich ging, vergisst er zu erwähnen. Er verweist auf den Polizisten, der angeblich zwischen der Mauer und dem Smart gestanden haben soll – der müsse der Zeugin die Sicht genommen haben. Brögeler behauptet, der Zeuge Alexander Gast habe gesagt, Mouhamed Dramé sei hinter der Mauer hervor gerannt.

Das ist falsch – tatsächlich hatte Gast am dritten Prozesstag ausgesagt, er habe „keine aktive Erinnerung“ daran, wie Dramé hinter der Nische hervorgekommen sei.

Die Zeugin, ruft Brögeler, bewege sich in einer Social-Media-Bubble. In der wisse man schon, wie es gewesen sei. Dann kritisiert er Besucher, die „mediale Stimmungsmache“ betrieben, und beschimpft einen Journalisten als „Schreiberling“, der seit Wochen „wie eine offene Hose“ dasäße.

So endet der 14. Prozesstag in einem Tumult.

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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