Werden zukünftige Verkehrssysteme ganz anders sein? Oder bloß die leidige Gegenwart mit Staus und verstopften Straßen verlängern? Unter dem Titel „Europa rüstet sich für die Zukunft“ war unlängst in der Tagespresse zu lesen, dass nach einem Szenario der EU-Kommission künftig „Drohnen Blutkonserven zur Not-OP bringen. Außerdem sollen sie Personen innerhalb von Städten transportieren – das Ganze klimaneutral“. Mit diesem Beitrag aus Wetzlar beginnen wir einen Erfahrungsaustausch in der UZ über die notwendige Verkehrs- und Mobilitätswende in unseren Kommunen.
Im mittelhessischen Wetzlar, wo der damals 23-jährige Justizpraktikant J. W. Goethe im Sommer 1772 zu seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ inspiriert wurde, gilt für kommunalpolitische Weichenstellungen pro oder kontra Verkehrswende Goethes Beobachtung aus der Postkutschenzeit: „Man lässt alles laufen bis es schädlich wird. Dann zürnt man und schlägt drein.“
Der Weckruf des Bundesverfassungsgerichtes vom April 2021 zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung ermahnte die Politik zu einer radikalen Abkehr von eingefahrenen Gewohnheiten in praktisch allen Lebensbereichen. Das kommunale Hemd ist jedoch den Entscheidern vor Ort allemal näher als das Gebot des obersten Bundesgerichtes oder dramatische Appelle des UN-Generalsekretärs Guterres, dass sich höllische Szenarien in Bälde nicht mehr abwenden lassen, sollte nicht umgehend und radikal umgesteuert werden. Die kommunalen Haushalte hängen jedoch an Einnahmen aus der Gewerbesteuer wie der Junkie an der Nadel. Wachstum hat Vorrang vor Nachhaltigkeit.
Für potentielle Investoren werden gute Ackerböden als Gewerbegebiete erschlossen. Neue Zufahrtsstraßen und Autobahnanschlüsse komplettieren die Bodenversiegelung. Der dörflich geprägte und vom Nord-Süd-Verkehr der E 41 tangierte Wetzlarer Stadtteil Münchholzhausen ist von drei Seiten von Gewerbegebieten und Autobahn umringt. Die Bestände von Feldlerche, Rebhuhn und Feldhamster gehen inzwischen gegen Null. In der durch Fachwerk-Häuserzeilen und lauschige Plätze geprägten Altstadt Wetzlars ist „Frequenz generieren!“ der Schlachtruf für die zukünftige Stadtentwicklung.
Dass die Besucher in Strömen kommen und verweilen will man durch immer neue Parkhäuser mitten in der Stadt sicherstellen. Dafür wurde unlängst ein intakter Kinderhort mit großer Spielwiese 100 Meter oberhalb des ehrwürdigen Doms plattgemacht. Derzeit ruht das mit rund zehn Millionen Euro veranschlagte Bauprojekt, weil durch die Grabungsarbeiten die Standsicherheit der historischen Stadtmauer nicht mehr gewährleistet ist.
Die städtische Stellplatzsatzung sieht vor, dass für eine Familienwohnung zwei PKW-Stellplätze vorgehalten werden müssen. Bei neu errichteten Wohnungen macht das mehr als 10 Prozent des Kaufpreises aus, nicht wenige Stellplätze in Tiefgaragen bleiben unbenutzt. Betonblöcke schützen das unbenutzte Eigentum vor „Schwarzparkern“. Dass das motorisierte Verkehrsaufkommen weiter steigen wird erscheint alternativlos. Mittels des „Fluid“-Programms soll eine intelligente Ampelphasenschaltung den innerstädtischen Verkehrsfluss optimieren.
Dabei kommen die „Einschläge“ dieser „Nach-uns-die-Sintflut“-Verkehrspolitik immer näher. Im Sommer 2022 brannten 60 Hektar Wald nördlich von Wetzlar nieder, die hessischen Flüsse hatten im Jahresmittel nur noch ein Drittel der üblichen Wassermenge. Der Verkehr bleibt das Schlusslicht beim Klimaschutz, sowohl auf der Bundesebene als auch bei regionalen Planungen. Die Investitionen in die Straße werden auf 11,5 Milliarden erhöht, während sie für die Schiene bei rund 9,5 Milliarden verharren. Die im Koalitionsvertrag verabredete Zielvorgabe „nachhaltige und für alle bezahlbare Mobilität“ wird auf allen Ebenen konterkariert. Der Staat fördert weiter die Strukturen, die für den größten Teil der Verkehrsemissionen verantwortlich sind.