Die sozialen Folgen der „Zeitenwende“ – eine Bilanz

Verheerend

Es ist jetzt ein Jahr her, seitdem Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags unter großem Beifall der Mehrheit der Abgeordneten die sogenannte „Zeitenwende“ ausrief. Die Welt sei „nicht mehr dieselbe wie zuvor“, so der Kanzler an diesem denkwürdigen 27. Februar. Tatsächlich hat sich zumindest hierzulande das politische Koordinatensystem nachhaltig verschoben. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in Nachrichten- und Sondersendungen die Kriegshysterie geschürt und für immer neue Waffenlieferungen nach Kiew getrommelt wird. Gleichzeitig werden Forderungen nach Verhandlungslösungen diffamiert. Die Frage nach den tieferen Ursachen des Krieges sollen nicht diskutiert und deren Profiteure nicht beim Namen genannt werden. Allein die Frage, wie Russland besiegt und dauerhaft geschwächt werden kann, bestimmt den öffentlichen Diskurs.

Jenseits des politischen und kulturellen Überbaus fällt die Bilanz von 365 Tagen Aufrüstung und Stellvertreterkrieg verheerend aus. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so weit auseinandergegangen wie noch nie. In Folge des Wirtschaftskriegs und der damit verbundenen Sanktionen erreichte die Inflation mit 10,5 Prozent im Herbst ein Rekordniveau. Besonders hart betroffen von dieser Entwicklung sind Haushalte mit niedrigen Einkommen, da die Preissteigerungen überwiegend Güter und Dienstleistungen betreffen, die zum alltäglichen Leben benötigt werden. So stiegen die Kosten für Lebensmittel im August 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat um 16,6 Prozent und bei Haushaltsenergie und Kraftstoffen im gleichen Zeitraum um 35,6 Prozent.

Während Bezieher höherer Einkommen hohe Preissteigerungen zumindest mittelfristig durch Mehrausgaben kompensieren können, zwingt die Inflation Lohnabhängige im unteren und mittleren Lohnsegment schnell zu spürbarem Konsumverzicht. Die Folgen sind Wohlstandsverluste bis weit hinein ins Facharbeitermilieu.

Die ersten beiden Entlastungspakete der Bundesregierung haben an dieser fatalen Entwicklung wenig geändert. Die dort beschlossenen Einmalzahlungen waren zu gering, um in der Breite der Bevölkerung einen ausreichenden Effekt zu erzielen. Darüber hinaus waren sie sozial unausgewogen. Besserverdienende haben durch den Abbau der kalten Progression sogar zusätzlich profitiert.

Selbst die von Gewerkschaften und Sozialverbänden lange geforderte Gaspreisbremse sieht in der von der Regierung umgesetzten neoliberalen Variante vor, dass alle unabhängig vom tatsächlichen Einkommen eine Abschlagszahlung erhalten. In der Folge haben große Konzerne und reiche Haushalte überproportional profitiert.

Auch das als „Doppelwumms“ bezeichnete 200-Milliarden-Paket hatte nie die Verbesserung der Situation für Gering- und Normalverdiener im Fokus. Erklärtes Ziel war stattdessen, vor allem Unternehmen zu „kapitalisieren“. Tarifbindung, Mitbestimmung oder zumindest Arbeitsplatzsicherung als Bedingung für die Auszahlung dieser staatlichen Mittel war bei den Berliner Koalitionären nie ein Thema. Auch eine Reform des Steuersystems, das Superreiche und große Konzerne zur Finanzierung heranzieht, vermisst man bis heute. Die Rechnung wird stattdessen den arbeitenden Menschen präsentiert.

Auf der anderen Seite konnten die hundert größten Unternehmen ihren Umsatz um 30 Prozent und die Gewinne um 22 Prozent auf 145 Milliarden steigern. Hiervon profitierten auch die Aktionäre. Daimler-Benz schüttete 5,3 Milliarden Euro an Dividenden aus. Bei BMW waren es 4,4 Milliarden und beim Allianz-Konzern ebenfalls über 4 Milliarden Euro. Insgesamt stieg die Dividendenausschüttung der DAX-Konzerne im Krisenjahr auf das Rekordniveau von 55 Milliarden Euro.

„Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen“ – treffender als Rosa Luxemburg dies bereits vor über 100 Jahren tat, kann man den vermeintlichen Widerspruch zwischen der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in Folge von Krieg und Krise und gigantischer Profite nicht auf den Punkt bringen. Damals wie heute gilt: Der Ruf nach Frieden und Sozialismus stört dieses lukrative Geschäftsmodell.

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"Verheerend", UZ vom 10. März 2023



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