Die Jakarta-Methode – Blaupause für die antikoloniale Konterrevolution

Vergessen gemachtes Massaker

Vincent Bevins

In Bandung wurde 1955 vom indonesischen Präsidenten Sukarno die Initiative zum Zusammenschluss der sich gerade vom Kolonialismus befreienden Völker ergriffen. Eng verbündet mit Sukarno war die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI), die damals drittstärkste der Welt. Zehn Jahre später putschte das Militär, angeleitet und ausgerüstet von der CIA – im Interesse des US-Imperialismus. Eine Million Menschen wurden grausam ermordet, unzählige eingesperrt und gefoltert. Der US-amerikanische Journalist Vincent Bevins erzählt die Geschichte der antikommunistischen Hysterie, die auf die antikoloniale Befreiung folgte. Er stützt sich dabei auf Archivmaterial sowie freigegebene Dokumente und Augenzeugenberichte und ordnet die Vorgänge in die weltweiten Klassenkämpfe ein – trotz seiner bürgerlichen Argumentation. Glenn Jäger hat das Buch übersetzt und mit einem Nachwort versehen, das die deutsche Mitverantwortung darstellt. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck eines von uns redaktionell bearbeiteten und gekürzten Textauszugs.

Am 1. Oktober 1965 hatten die meisten in Indonesien keine Ahnung, wer General Suharto war. Anders als die CIA. Bereits im September 1964 wurde Suharto in einem geheimen Telegramm als einer der Armeegeneräle aufgeführt, die als „wohlgesonnen“ gegenüber den US-Interessen und als antikommunistisch galten. Im gleichen Schreiben wurde auch die Idee einer antikommunistischen, militärisch-zivilen Koalition vorgebracht, die in einem noch folgenden Kampf die Macht erlangen könnte.

Suharto, ein wortkarger 44-jähriger Generalmajor aus Zentraljava, war Chef des Strategischen Kommandos der Armee (KOSTRAD). Er war ausgebildet worden von einem Mann namens Suwarto, einem engen Freund von Guy Pauker, der wiederum ein Berater der RAND Corporation war, einem Thinktank aus dem Umfeld des US-Militärs; Suwarto gehörte zu jenen indonesischen Offizieren, die an zentraler Stelle für die Umsetzung der militärisch flankierten Modernisierungstheorie Verantwortung trugen – mit einer Armee als „Staat im Staat“ – und für eine Aufstandsbekämpfung an der Seite der USA. Suharto blickte auf eine bewegte Vergangenheit innerhalb des indonesischen Militärs. Er war in den späten 1950er Jahren beim Schmuggeln erwischt worden und wurde von Nasution selbst entlassen.

Seltsamerweise übernahm also General Suharto am 1. Oktober das Heereskommando – und nicht etwa Washingtons langjähriger Günstling Nasution, der ranghöchste Offizier des Landes, der gerade die Ereignisse der vorangegangenen Nacht überlebt hatte. Der Rollentausch war dermaßen unerwartet, dass gleich mehrere zentrale Akteure Wochen brauchten, um zu begreifen, dass Suharto tatsächlich das Sagen hatte.

Alles, was Suharto im Oktober tat, deutet darauf hin, dass er einen Plan zu einem antikommunistischen Gegenschlag umsetzte, der im Voraus entwickelt worden war, und nicht einfach nur auf die Ereignisse reagierte.

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Indonesien verteilt sich auf über 17.000 Inseln und ist mehr als fünf Mal so groß wie Deutschland. Heute leben dort 274 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen auf der Insel Java. Heute gilt das Land als bürgerliche Demokratie, allerdings gelten ein Großteil der reaktionären und antikommunistischen Gesetze weiterhin. (Foto: public domain)

Am Morgen des 1. Oktober traf Suharto in der KOSTRAD-Zentrale ein, die aus irgendeinem Grund von der Bewegung 30. September verschont geblieben war, obwohl sie direkt am Platz der Unabhängigkeit lag, den sie in den frühen Morgenstunden besetzt hatte. Auf einer Dringlichkeitssitzung an jenem Morgen übernahm er den Oberbefehl über die Streitkräfte. Am Nachmittag forderte er die Truppen auf dem Platz der Unabhängigkeit auf, sich zu zerstreuen und die Rebellion zu beenden, andernfalls würde er zum Angriff übergehen. Er eroberte das Zentrum Jakartas zurück, ohne einen einzigen Schuss abzugeben, und erklärte persönlich über Radio, dass die Bewegung 30. September besiegt worden sei. Präsident Sukarno wies einen anderen Generalmajor, Pranoto, an, sich mit ihm auf dem Luftwaffenstützpunkt Halim zu treffen und die vorläufige Führung über die Streitkräfte zu übernehmen. Entgegen der direkten Order seines Oberbefehlshabers untersagte Suharto Pranoto die Fahrt dorthin und gab Sukarno seinerseits den Befehl, den Militärflugplatz zu verlassen. Sukarno folgte dem und floh in einen Präsidentenpalast außerhalb der Stadt. Suharto übernahm daraufhin mühelos die Kontrolle über den Flughafen und anschließend über das ganze Land, wobei er Sukarno überging, wann immer er es für richtig hielt.

Kaum hatte er die Befehlsgewalt inne, ordnete Suharto die Schließung aller Medien an, mit Ausnahme jener der Armee, die ja nun von ihm kontrolliert wurden. Eigenartigerweise veröffentlichte „Harian Rakyat“ – die Zeitung der Kommunistischen Partei – am 2. Oktober einen Leitartikel auf der Titelseite, der die Bewegung 30. September unterstützte: einen ganzen Tag also, nachdem der Putsch gescheitert war und die Redaktionsstuben Berichten zufolge vom Militär besetzt worden waren. Sie war die einzige nicht dem Militär zugehörige Zeitung, die an diesem Tag noch erschien, was darauf hindeuten könnte, dass die Armee den Artikel veröffentlichte, um die Partei zu belasten; oder – so eine weitere Annahme – dass die Partei meinte, es gäbe nichts daran auszusetzen, mit dem Beitrag eine interne Gruppe der Armee zu unterstützen, deren scheinbar lobenswertes Ziel es war, einen rechtsgerichteten Putsch zu verhindern. Es gibt reichlich Theorien. Laut dem Publizisten Martin Aleida, der damals bei der Zeitung arbeitete, unterscheidet sich der Stil des Leitartikels deutlich von jenem, dessen sich das PKI-Mitglied Njoto, der normalerweise an der Stelle schrieb, bediente. Auf der Titelseite der Zeitung erschien an diesem Tag eine Karikatur im üblichen Stil der „Harian Rakyat“. Darin wurde die Bewegung 30. September als Faust dargestellt, zuschlagend gegen den „Rat der Generäle“, der durch einen Mann symbolisiert ist, dessen Hut beim Zurückfallen die Aufschrift „CIA“ zum Vorschein bringt.

Nun kontrollierte Suharto die gesamte Massenkommunikation. Er unterstellte der PKI schockierende Verbrechen, und zwar unter Einsatz von vorsätzlichen und aufhetzenden Unwahrheiten, um im ganzen Land Hass gegen die Linke zu schüren.

Das Militär verbreitete die Geschichte, die PKI sei die Drahtzieherin eines gescheiterten kommunistischen Putsches gewesen. Suharto und seine Mannen behaupteten, die Kommunistische Partei habe die Generäle auf den Luftwaffenstützpunkt Halim gebracht und ein verdorbenes, dämonisches Ritual abgehalten. Mitglieder der Frauenbewegung „Gerwani“ hätten nackt umhergetanzt, während andere Frauen die Generäle gefoltert und verstümmelt hätten: die Genitalien abgeschnitten, die Augen ausgestochen und sie anschließend ermordet. Sie behaupteten, die PKI verfüge über lange Listen von Personen, die sie zu töten gedenke, und habe bereits Massengräber vorbereitet. Sie sagten, China habe heimlich Waffen an Brigaden der „Volksjugend“ geliefert. Die Armeezeitung „Angkatan Bersendjata“ (Streitkräfte) druckte Fotos von den Leichen der Generäle ab und tat kund, diese seien „grausam und bösartig massakriert“ worden, mit Folterungen, die „ein Affront gegen die Menschlichkeit“ seien.

Als die ersten Nachrichten über diese Entwicklungen in den USA eintrafen, rief Unterstaatssekretär George Ball einer Telefonnotiz zufolge den CIA-Direktor Richard Helms an: Ob man in der Lage sei, so die Frage, „diese Verstrickung von CIA-Operationen in die indonesischen Vorgänge kategorisch abzustreiten“. Helms bejahte. US-Botschafter Green rechnete vermutlich nicht damit, dass am 1. Oktober etwas passieren würde, und alle mittlerweile veröffentlichten Dokumente des State Department deuten darauf hin, dass die Botschaft in den ersten Oktobertagen durch die Ereignisse verunsichert war. Es ist unklar, ob dem neuen Botschafter Informationen vorenthalten wurden.

Bald nach der anfänglichen Verwirrung unterstützte die US-Regierung Suharto in der entscheidenden Frühphase bei der Verbreitung von Propaganda und der Etablierung seines antikommunistischen Narrativs. Washington lieferte dem Militär schnell und verdeckt unentbehrliche Mobilfunkausrüstung, wie aus einem inzwischen freigegebenen Telegramm vom 14. Oktober hervorgeht. Dies war auch ein frühes, stillschweigendes Eingeständnis, dass die US-Regierung anerkanntermaßen die eigentliche Führung des Landes bei der Armee und nicht etwa bei Sukarno sah, der rechtlich gesehen noch immer Präsident war.

Auch die westliche Presse trug ihren Teil bei. Voice of America, die BBC oder Radio Australia sendeten Beiträge, in denen Propagandaberichte des indonesischen Militärs hervorgehoben wurden, die Teil der psychologischen Kriegsführung zur Dämonisierung der PKI waren. Diese Sendungen wurden auch in der Landessprache Bahasa Indonesia ausgestrahlt, und viele hielten Suhartos Erzählung für umso glaubwürdiger, als sie hörten, dass angesehene internationale Medien das Gleiche sagten.

Die von der indonesischen Armee erzählten Geschichten waren bis ins Detail erfunden. Keine „Gerwani“-Frauen nahmen an diesem 1. Oktober an irgendwelchen Tötungen teil. Mehr als drei Jahrzehnte später konnte Benedict Anderson beweisen: Nicht nur war der Bericht über die Folterungen der Generäle falsch, sondern Suharto wusste Anfang Oktober auch, dass all das nicht der Wahrheit entsprach. Er selbst ordnete eine Autopsie an, die ergab, dass alle Männer erschossen worden waren, bis auf einen, der möglicherweise bei einem Kampf in seinem Haus mit einem Bajonett erstochen worden war.

Doch 1987, als Andersons Beweis veröffentlicht wurde, spielte diese Entdeckung keine Rolle mehr. Unter der Suharto-Diktatur gehörte die Geschichte von einem dämonischen kommunistischen Komplott zur Übernahme des Landes – mitsamt der Verstümmelung guter, gottesfürchtiger Militärs in der Dunkelheit der Nacht – längst zu so etwas wie einem nationalen Religionsersatz. Nicht lange nach seiner Machtübernahme errichtete Suharto ein Denkmal für die in jener Nacht getöteten Männer. Und Suharto beließ es mit seiner Propaganda nicht bei Statuen und jährlichen Reden – er ordnete die Produktion eines schaurigen, dreistündigen Films an, der seine Version der Ereignisse darstellte und Jahr für Jahr am 30. September im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Armee führt ihn noch immer auf.

Die von Suharto verbreitete Geschichte trifft einen Nerv, sie berührt einige der düstersten Ängste und Vorurteile in Indonesien und weit darüber hinaus – ja weltweit. Ein überraschender nächtlicher Überfall auf Wohnorte; langsame Folter mit gewetzten Klingen; die Verdrehung von Geschlechterrollen, der buchstäbliche Angriff auf die Geschlechtsorgane starker Männer, ausgeführt von dämonischen, sexuell verkommenen kommunistischen Frauen – der Stoff für einen gut geschriebenen, reaktionären Horrorfilm. Und kaum jemand glaubte, dass Suharto von alleine darauf gekommen war.

Der Historiker Bradley Simpson vom National Security Archive in Washington D.C. stellt fest: „Auch wenn wir keinen Zugang zu vielen der geheimen US-amerikanischen und britischen Dokumente haben, so ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Schlüsselelement der US-amerikanischen und verdeckten Operationen zu dieser Zeit in der Schaffung von ‚schmutziger‘ Propaganda innerhalb Indonesiens bestand“ – mit dem Ziel, die PKI zu dämonisieren.

Suharto schaffte es, einem unbändig antikommunistischen Narrativ, ja: einer absurd fanatischen und aufgebauschten Version einer globalen rechten Ideologie, offizielle Legitimität zu verleihen. Das war eine erstaunliche Kehrtwende im Vergleich zum politischen Klima, das noch wenige Wochen zuvor geherrscht hatte. Doch Sukarno war formal gesehen immer noch Präsident, und es gab weiterhin jede Menge Menschen im Land, die Kommunisten waren oder Kommunisten gegenüber weitgehend aufgeschlossen waren. Um beide Probleme sollte sich die Armee in den nächsten sechs Monaten kümmern.

Bewegung 30. September: Zusammenschluss im indonesischen Militär, der wahrscheinlich aus eigenem Antrieb versucht hatte, einen rechten Militärputsch zu verhindern. In der Nacht auf den 1. Oktober 1965 versuchte die Bewegung, die sieben führenden Militärs zu verhaften. Sechs Generäle sind dabei erschossen worden. Es ist möglich, dass die Bewegung durch die CIA und indonesische Faschisten instrumentalisiert wurde.
Modernisierungstheorie: In den 1950er Jahren in den USA entstandene Theorie, nach der Gesellschaften eine Reihe von Stadien durchlaufen müssten, um den Stand „moderner“ Gesellschaften zu erreichen. Bevins nennt sie technokratisch und entschieden volksfeindlich. Es habe sich die Haltung durchgesetzt, dass es für den Sprung in die „Moderne“ „eine entschlossene Elite, etwa US-freundliche Generäle“, brauche.
Nasution, Abdul Haris: Armeechef und Verbindungsmann der USA in Indonesien. Sollte am 30. September ebenfalls verhaftet werden. Ihm gelang die Flucht. Unter Suharto zunächst Verteidigungsminister.
Sukarno: Von 1945 bis 1967 erster Präsident Indonesiens. Von seinem erzwungenen Rücktritt bis zu seinem Tod 1970 stand er unter Hausarrest.

Vincent Bevins
Die Jakarta-Methode
Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis ­heute prägt

PapyRossa Verlag Köln 2023, 427 Seiten, 28,00 Euro
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"Vergessen gemachtes Massaker", UZ vom 17. Februar 2023



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