Arme Mieter sollen raus. Ein geheimes Strategiepapier gibt Ausblick auf die Zukunft des kommunalen ­Wohnungsunternehmens Allbau in Essen

Verdrängung eingeplant

Strahlender Sonnenschein und gut gelaunte Lokalpolitiker: So inszenierte die Stadt Essen am 17. Oktober den Baubeginn für das Projekt „Im Mühlengarten“. Hier will das kommunale Wohnungsbauunternehmen Allbau 21 Einfamilienhäuser und zwei Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 44 Wohnungen errichten, auch eine Kita ist geplant. Wie bei solchen Anlässen üblich, zeigte sich der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) begeistert: „Der städtische Allbau gehört zu den besonderen Aktivposten und investiert umfangreich, trotz steigender Kosten im Bausektor.“

Was er nicht sagte: Zu diesem Zeitpunkt spielte das städtische Unternehmen längst mit dem Gedanken, den frei finanzierten Wohnungsbau aufzugeben und öffentlich geförderte Bauvorhaben nur noch bei „relevanter Rentabilität“ zu verfolgen. Das geht aus einem internen Diskussionspapier zu „Wirkungen der allgemeinen Entwicklung in der Bau- und Finanzwirtschaft auf die Investitionstätigkeit der Allbau-Gruppe“ hervor, das UZ vorliegt. Erstellt wurde es zur Vorbereitung einer Strategiedebatte im Aufsichtsrat der Immobilien Management Essen GmbH, zu der Allbau gehört.

Die darin unterbreiteten Vorschläge haben es in sich: Bei der Neuvermietung von Wohnungen sollen die Mieten über den Mietspiegelwert erhöht werden. Sämtliche nicht zwingend notwendigen Leistungen wie „Sponsoring, Spenden, Sozialmanagement, freiwillige Leistungen im Personalbereich“ sollen eingestellt werden. Zudem wird vorgeschlagen, die „maximal zulässigen Mietanpassungsspielräume“ auszuschöpfen und die „Sicherung eines Niedrigpreissegments im Bestand“ aufzugeben. Letzteres sei verbunden mit der „Verdrängung der dort wohnenden Menschen“, wie aus dem Papier hervorgeht.

Für Mieterinnen und Mieter hätte die Umsetzung dieser Ideen katastrophale Folgen, wie Siw Mammitzsch von der Mietergemeinschaft Essen auf UZ-Anfrage erklärt: „Die Mieten sollen deutlich erhöht werden und der noch vorhandene bezahlbare Wohnraum wird abgeschafft. Insbesondere Leistungsbezieher sind von Verdrängung bedroht. Aber wohin? Wer bietet noch bezahlbare Mieten an? Wir werden erleben, dass die Haushalte mit niedrigen Einkommen ihre bewohnten Quadratmeter absenken. Die Qualität der Wohnungen wird schlechter, die Wohnungslosigkeit wird steigen.“

Mammitzsch weist darauf hin, dass das Dokument eine Vielzahl weiterer Vorschläge enthält, die derzeit (noch) nicht zur Annahme empfohlen werden. Dazu gehören der Verzicht auf Modernisierungen außerhalb des Klimaschutzes, die „Kürzung der Instandhaltungsausgaben“ oder ein „Sozialverträglicher Personalabbau unter Akzeptanz von Qualitätsverlusten“. „Sollte der Druck stärker werden“, so Mammitzsch, sei zu befürchten, dass „auch diese Maßnahmen wieder aus der Schublade geholt werden“.

Mit knapp 17.700 Wohnungen im Stadtgebiet ist Allbau der größte Anbieter von Mietwohnungen in Essen. Zu den im Papier genannten Herausforderungen gehören unter anderem die hohen Energiepreise, die Zinsentwicklung und steigende Baukosten. Thema sind auch die gesetzlichen Klimaschutzziele und die damit verbundenen Anforderungen im Neubau und der Zwang zur Modernisierung. Diese seien unter den aktuellen Bedingungen wirtschaftlich nicht umsetzbar. Nach der internen Berechnung würden bis zum Jahr 2045 Investitionskosten von über 1 Milliarde Euro fällig, um die Vorgaben der geltenden Gesetze zu erfüllen. Die Vorschläge zur strategischen Neuausrichtung sollen eine Antwort darauf sein.

Die Folgen werden jedoch nicht nur Mieterinnen und Mieter spüren. Auch der Stadt Essen drohen erhebliche Einbußen. Zurzeit zieht die Stadt reichlich Kapital aus dem Wohnungsunternehmen. Bisher wurden jährlich circa 13 Millionen Euro als Dividende ausgeschüttet. Die Kommune stopft damit ihre Haushaltslöcher. Auf Dauer wird dies jedoch nicht mehr möglich sein, wie die Berechnungen des Unternehmens zeigen; im Jahr 2027 wäre Schluss. Nur wenn die Höhe der Dividende sinkt, bekommt die Stadt weiter Geld. Eine komplette Zahlungseinstellung wäre aus Sicht des Unternehmens die beste Lösung. Die Folgen für den städtischen Haushalt wären jedoch erheblich.

Die Immobilien Management Essen GmbH wollte keine Auskunft darüber geben, ob die Vorschläge bereits im Aufsichtsrat verhandelt und beschlossen wurden. Das Unternehmen lehnte eine Stellungnahme mit Verweis darauf ab, dass die UZ vorliegenden „Informationen für einen nicht-öffentlichen Teilnehmerkreis gedacht sind“. Auch die Stadt Essen sah auf UZ-Anfrage keine Möglichkeit, „hierzu Stellung beziehen zu können, da es sich um ein internes Dokument aus einer internen Sitzung handelt“.

Von der lokalen Politik erwartet Siw Mammitzsch ohnehin keine Hilfe. „Das wäre eh nur soziales Flickwerk“, sagt sie. „In einer kapitalistischen Krise spielt es im Grunde keine Rolle, dass die Wohnungen in öffentlicher Hand sind. Früher wurden die Mieter in kommunalen Unternehmen nicht ganz so sehr ausgepresst. Doch in der Krise ist alles Mist.“ Es sei an der Zeit, auf Friedrich Engels zurückzukommen und eine „revolutionäre Wohnungspolitik“ zu entwickeln. „Ohne die Betroffenen einzubeziehen, wird das aber nicht gehen“, so Mammitzsch.

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"Verdrängung eingeplant", UZ vom 10. November 2023



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