Bibliothek des Widerstands, Band 32:
Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien Band II – Die sechziger Jahre. Revolte und Strategie der Spannung. Laika Verlag, 424 Seiten, 29,90 Euro.
Auf zwei DVDs sind acht Filme mit deutschen Untertiteln beigefügt. Darunter der vom Laika Verlag mit der Stiftung Cineteca von Bologna restaurierte Film von Pier Paolo Pasolini und Lotta Continua „12. Dicembre“. Der ein Jahr nach dem Attentat auf der Piazza Fontana produzierte Streifen gibt ein eindrucksvolles Bild von den Reaktionen auf den Beginn der „bleiernen Jahre“ wider.
Die Aufstellung der Filme insgesamt:
- Come favolsi fuochi d’artificio – Wie ein fabelhaftes Feuerwerk (1967, Regie Lino Del Fra, 30 Min.),
- In cerca del sessantotto. Trace e indizi – Auf der Suche nach Achtundsechzig. Spuren und Indizien (1996, Regie Giuseppe Bertolucci, 74 Min.),
- Della conoscenza – Über das Bewusstsein (Regie Alessandra Bocchetti, 34 Min.),
- Cinegiornale del Movimento Studentesco n. I – Wochenschau der Studentenbewegung Nr. 1 (1968, Regie Movimento Studentesco, 43 Min.),
- Perche Viareggio – Warum Viareggio? (1969, Regie Moviomento Studentesco, 44 Min.),
- Contratto – Vertrag (1970, Regie Ugo Gregoretti, 76 Min.),
- 12. Dicembre – Der 12. Dezember (1972, Regie Giovanni Bonfanti, Pier Paolo Pasolini, 140 Min.),
- Ipotesi sulla morte die G. Pinelli – Hypothesen über den Tod G. Pinellis (1970, Regie Elio Petri, 13 Min.).
Die Filme sowie zirka 50 zeitgenössische Fotos illustrieren die dramatischen Vorgänge jener Jahre, die vielfältigen Reaktionen der politischen Kräfte und den leidenschaftlichen Widerstand einer in den Volksmassen verwurzelten Basis. Es ist ein Erlebnis, diese Filme zu sehen, die besser als manche Texte ein lebendiges Bild von den Ereignissen vermitteln.
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Mit „Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien – Die sechziger Jahre: Revolte und Strategie der Spannung“ hat der Hamburger Laika Verlag einen neuen (Bd. 32) seiner in Kooperation mit „junge Welt“ publizierten Bibliothek des Widerstandes vorgelegt. Herausgeber sind Karl-Heinz Dellwo, einst Mitglied des RAF-Kommandos „Holger Meins“ bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm, danach über 20 Jahre Gefängnis, heute Autor, Filmemacher, Verleger und Mitbegründer des Laika Verlages, und Will Baer, bis 1977 Redakteur der antifaschistischen Wochenzeitschrift „Die Tat“, danach bis 1989 Chefredakteur der Zeitschrift „Cinema“, 1990 bis 2003 unabhängiger Filmproduzent, ebenfalls Mitbegründer des Laika Verlages.
Der Band befasst sich mit den Jahren von 1967 bis 1969, gibt aber auch Ausblicke auf die folgenden Jahre. In zwei Kapiteln „Die langen Achtundsechziger“ und „Piazza Fontana“ werden in zehn Beiträgen die Aktivitäten der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Linken, auch „Neue Linke“ genannt, und ihr Verhältnis zur Arbeiterbewegung und ihrer führenden Kraft, dem Partito Comunista Italiano – PCI (Italienische Kommunistische Partei – IKP) abgehandelt. Zu den Autoren gehören Renato Curcio, Chef der Gründergeneration der Brigate Rosse (Rote Brigaden), Guido Salvini, langjähriger Ermittler zum Bombenanschlag in Mailand, Rina Gagliardi, Mitbegründerin und zeitweise Direktorin der Zeitung „Manifesto“, 2005/06 Chefredakteurin der „Liberazione“, Organ des nach der Beseitigung der IKP 1991 gegründeten Partito della Rifondazione Comunista – PRC (Partei der Kommunistischen Wiedergründung), und Marco Revelli, Mitglied der Leitung von „Lotta Continua“ (Fortgesetzter Kampf) bis zu ihrer Auflösung 1976, Historiker, Autor zahlreicher Bücher zu Faschismus und Antifaschismus. Den Anhang bilden eine politische Chronologie, ein Abkürzungsverzeichnis und Biografisches. Ein Literaturverzeichnis wie auch ein Personenregister, die die Arbeit mit dem informativen Werk erleichtert hätten, fehlen leider.
Drahtzieher der
Spannungsstrategie
In dieser Zeit wuchsen die Wahlergebnisse der IKP von 25,3 Prozent 1963 über 27,2 im Jahr 1972 auf 33,8 1976 Prozent an. Die Christdemokratische Partei (Democrazia Cristiana – DC) behauptete zwar zirka 38/39 Prozent, besaß aber damit keine stabile Regierungsmehrheit mehr. Es entstand die reale Möglichkeit, dass die Linken insgesamt über 50 Prozent erreichen und die Regierung übernehmen konnten. Das rief die USA und ihre italienischen Erfüllungsgehilfen auf den Plan.
Sie waren, wie ausführlich und beweiskräftig dargelegt wird, die Drahtzieher des Bombenattentats am 12. Dezember 1969 in der Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand, das um 16.37 Uhr ein Blutbad anrichtete. 14 Menschen waren sofort tot, zwei weitere starben im Krankenhaus, etwa einhundert wurden verletzt. Fast zur gleichen Zeit gingen in Rom drei Bomben bzw. Sprengsätze hoch: In der Banca Nazionale del Lavoro auf der Via Veneto, die 14 Personen verletzten; zwei weitere geringerer Sprengkraft am „Altar des Vaterlandes“ auf der Piazza Venezia, die einen Carabiniere und drei Passanten verletzten. Mit den Anschlägen beginnt die von der CIA und ihrer geheimen Nato-Truppe „Stay behind“, die in Italien Gladio hieß, mit den römischen Geheimdiensten und Neofaschisten inszenierte blutige Spannungsstrategie, die sogenannten Anni di Piombe (bleiernen Jahre) die den bewaffneten Kampf der radikalen Linken provozierten. Ziel war, den linken Vormarsch zu stoppen und einem Putsch zur Errichtung eines Regimes nach dem Vorbild der griechischen Obristen, später nach dem Pinochets den Weg zu bereiten. Das Rezept war simpel. Die Neofaschisten begingen Terroranschläge, die den Linken in die Schuhe geschoben wurden. Neofaschisten, Geheimdienst- und Polizeiagenten gründeten selbst „linke“ Gruppen; in linksradikale Organisationen wurden ihre Agenten eingeschleust, die zu Anschlägen anstachelten, die sie meist selbst planten oder inspirierten.
Von 150 Terrorakten 1969 stieg ihre Zahl auf fast 2 400 im Jahre 1978 an. Dabei kamen Hunderte Menschen ums Leben, wurden Tausende verletzt. Von 1969 bis 1984 fielen der Spannungsstrategie allein in der roten Emilia 140 Tote und ein vielfaches mehr an Verletzten zum Opfer. 85 Tote und 200 Verletzte gab es bei nur einem Attentat auf dem Hauptbahnhof in Bologna im August 1980.
Das Attentat in Mailand plante der Altfaschist Pino Rauti, Führer der Terrororganisation „Ordine Nuovo“. Als Chef des gesamten schwarzen Terrornetzes war er die Nummer zwei der faschistischen Bewegung, deren führende Kraft die mit Förderung der USA 1946 in Gestalt des Movimento Sociale Italiano – MSI (Italienische Sozialbewegung) konstituierte Mussolini-Nachfolgepartei bildete. Den Anschlag führten die Terroristen Franco Fredda und Giovanni Ventura aus. Fredda tarnte sich als linker Intellektueller und betrieb einen Buchladen für linke Literatur, in dem er Schriften von Lenin, Mao Zedong und Che Guevara anbot. Die Täter waren jedoch als Terroristen in der Öffentlichkeit jahrelang unbekannt, denn der Anschlag wurde APO-Linken angelastet, vor allem Anarchisten. Die Untersuchungen leitete der Mailänder Kommissar Luigi Calabresi, den die CIA während eines „Fortbildungskurses“ in den USA 1966 angeworben hatte. Er ließ über 300 Personen der Anarchisten und der APO-Linken verhaften, darunter zwei der bekanntesten Mailänder Anarchisten, den Eisenbahner Giuseppe Pinelli und den Balletttänzer Pietro Valpreda. Jahrelang wurden Anarchisten und Linke verfolgt, viele eingesperrt, Giuseppe Pinelli umgebracht, gleichzeitig die Spuren, die zu den Neofaschisten führten, beseitigt.
Im März 1972 mussten Fredda und Ventura auf Grund der vorliegenden Beweise verhaftet werden. Die Prozesse gegen die Anarchisten wurden jahrelang verschleppt, sie erst 1979 und endgültig nach der Zurückweisung der Berufung der Staatsanwaltschaft 1981 freigesprochen. Die Verfahren gegen die Neofaschisten schleppten sich bis zum Ende des Jahrhunderts hin. Bei den Ermittlungen kam ans Licht, dass 19 der am dem Attentat beteiligten Neofaschisten direkt von der CIA geführt wurden.
Neofaschisten an Bundeswehrschule ausgebildet
Rauti traf im April 1968 in Athen Dimitrios Ioannidis, den starken Mann der Junta, um die griechischen Erfahrungen zu studieren. Dargelegt wird die Rolle des Spitzenagenten der CIA und des SID Guido Giannettini, der auf die Infiltration von Agenten in linke Organisationen und die Bildung links getarnter rechtsextremer Gruppen spezialisiert war. Aufschlussreich ist, dass Giannettini 1969 mit Rauti in der Bundesrepublik an einem Lehrgang für psychologische Kriegsführung an der Bundeswehrschule in Euskirchen teilnahm. Anschließend begaben die beiden Experten der Spannungsstrategie sich nach Reggio Calabria, wo sie an der Spitze der Neofaschisten monatelang anhaltende Bürgerkriegsauseinandersetzungen entfesselten.
Kenner der Spannungsstrategie werden enttäuscht sein, von Renato Curcio nichts darüber zu erfahren, wie die von ihm 1970 gegründeten „Brigate Rosse“ (Roten Brigaden“) nach seiner Ausschaltung (Verhaftung) von der CIA und dem SID mit Agenten unterwandert wurden, die die blutige Strategie des Tötungsterrors inszenierten, die im Mai 1978 in der Ermordung des DC-Führers Aldo Moro, Partner Berlinguers im Compromesso storico (Historischer Kompromiss), gipfelte.
In der Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1970 versuchte der 1946 zum Ehrenpräsidenten des MSI gewählte frühere Mussolini-Militär und abgeurteilte Kriegsverbrecher Valerio Borghese die Putschpläne in die Tat umzusetzen. Die Operation wurde kurz nach ihrem Anlaufen von der CIA abgeblasen, da Borghese den Termin des Losschlagens nicht mit der CIA abgestimmt hatte. Borghese floh ins faschistische Spanien, wo er 1974 starb.
Die Autoren geben einen reich mit Quellen belegten Einblick in den antifaschistischen Widerstand der APO-Linken, die mit Organisationen wie Lotto Continua mit gut 20.000 Mitgliedern über eine Massenbasis verfügte. Die Einschätzung Pasolinis der Studentenrevolte als „ein kurzes bürgerliches Strohfeuer“, in dem er bereits „ein Vorzeichen für die unmittelbar anstehende reaktionäre Wende“ sah, wird dabei nicht einbezogen.
Die „Neue Linke“ stand der IKP ablehnend gegenüber, in deren Führung sich an der Schwelle zu den 70er Jahren bereits revisionistische Tendenzen bemerkbar machten, die unter Berlinguer nach dem Wahlsieg 1976 zum Historischen Kompromiss mit der DC führten. Die Regierungszusammenarbeit mit der DC setzte allerdings nicht, wie ausgeführt wird, erst nach dem Putsch Pinochets in Chile 1973 ein, sondern wurde bereits zwei Jahre vorher von Berlinguer verkündet, was im Zusammenhang mit der Spannungsstrategie zu sehen ist. Noch bevor er im März 1972 auf dem 13. Parteitag den schwer kranken Luigi Longo als Generalsekretär ablöste, hatte Berlinguer auf der ZK-Tagung im November 1971 erklärt, man müsse „aus der endemischen Krise der Regierungen des linken Zentrums herauskommen“, eine „Regierung der demokratischen Wende“ bilden und „die Überwindung der Klassenschranken anstreben“ („Unità“, 12. November 1971).
Der Band gibt einen in dieser Komplexität wohl bisher kaum bekannten Überblick über die Spaltungen in der kommunistischen und linken Bewegung Italiens. Gegen die IKP bildeten sich allein drei maoistisch bzw. trotzkistisch geprägte Parteien, die sich kommunistisch nannten. Dieser Ballast wird teilweise bis in die Gegenwart mitgeschleppt. Denn Lotta Continua und Avanguardia Operaia gingen 1977 in der Democrazia Proletaria (DP) auf, die 1983 und 1987 zu Parlamentswahlen antrat und etwa 1,5 Prozent Stimmen erhielt, was nicht gerade für Sektencharakter spricht. Und besagte DP wirkte 1991 bei der PRC-Gründung mit und bildete eine trotzkistische Fraktion, die 2006 den PRC verließ und unter dem Philosophieprofessor Marco Ferrando, Mitglied der IV. Internationale, den Partito Comunista dei Lavoratori – PCL (Kommunistische Arbeiterpartei) bildete.
Das wirft viele Fragen auf, so auch nach dem verhängnisvollen Einfluss des Maoismus oder ob beide Seiten, die IKP und die APO-Linke entschieden gegen diese Zerrissenheit vorgingen oder zu sehr auf ihren Standpunkten als den einzig richtigen beharrten. Hätte man manchmal vielleicht besser den Kampf um die richtige revolutionäre Linie innerhalb der IKP führen sollen, statt die Partei zu verlassen und ein Gegengewicht zu bilden, wie es die Anhänger von „Manifesto“ praktizierten. Solche Fragen werden jedoch von den Autoren nicht thematisiert. Auch derzeitige Alternativen, die Misere der Spaltung der Linken zu überwinden, wie sie führende Kommunisten mit dem Philosophieprofessor Domenico Losurdo, Präsident der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken, an der Spitze verfolgen, werden nicht erwähnt.