Ein Wochenende im August 1961. In Rom trifft der antikoloniale Theoretiker Frantz Fanon den Philosophen Jean-Paul Sartre, den er sehr verehrt, und Simone de Beauvoir. Der französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann hatte das Treffen eingefädelt, er ist auch mit dabei. Fanon hat Sartre dazu bewegt, ein Vorwort für sein bald erscheinendes Werk „Die Verdammten dieser Erde“ zu verfassen. Er freut sich zudem auf den intellektuellen Austausch mit dem Philosophen.
Diese Begegnung dient Frédéric Ciriez und Romain Lamy als Aufhänger für ihre Biographie des Frantz Fanon – als Graphic Novel. Sie hat tatsächlich stattgefunden. Details über ihren Verlauf sind nicht bekannt. Lediglich Notizen von Lanzmann und de Beauvoir zeugen von der Relevanz, die alle Beteiligten dem Treffen beimaßen, und der Intensität der Diskussionen. Die Bibliographie im Anhang belegt, dass der Autor Frédéric Ciriez sich große Mühe gegeben hat, das Treffen der vier Geistesgrößen stimmig zu rekonstruieren.
Der Band ist in drei Kapitel gegliedert: Freitag, Samstag und Sonntag. „Der meistgehasste Philosoph Frankreichs freut sich, seinen größten Revolutionär zu treffen.“ So begrüßt Sartre Fanon, der seinerseits Bewunderung für den Philosophen ausdrückt. Das erste Kapitel ist das kürzeste. Es dreht sich um „Die Verdammten dieser Erde“, dessen Manuskript Sartre zu diesem Zeitpunkt bereits gelesen hat. Dass es das letzte Werk Fanons werden würde, zeichnet sich ab. Fanon leidet an Leukämie. Sartre begreift die Bedeutung, die Wucht, die „Die Verdammten dieser Erde“ entfalten wird, sofort.
Fanon, der sich in seinen frühen Werken vor allem an europäische Linke wandte, spricht darin direkt zu den „Verdammten“, den vom Kolonialismus unterjochten Völkern der Erde. Nach seinen Erfahrungen im Algerienkrieg – davon erzählt Fanon im dritten Kapitel dieses Buchs – sieht er die europäische Arbeiterklasse und westliche linke Intellektuelle nicht mehr als Verbündete für die Befreiung kolonialisierter Länder. Die dazu notwendigen Revolutionen bedürfen eines gewaltsamen Aufstands der afrikanischen Bauern, analysiert Fanon.
Viel Stoff also für tiefschürfende theoretische Auseinandersetzungen. Die bilden, eng verwoben mit Fanons biographischen Erzählungen (die im Vordergrund des zweiten Kapitels stehen), das eigentliche Sujet dieser Graphic Novel und verlangen Vorwissen seitens des Lesers. Fanon und Sartre – de Beauvoir und Lanzmann mischen sich nur selten ein – diskutieren über Inhalte, die kein bisschen an Aktualität verloren haben: über Schwarze Identität, die Frage der Gewalt im Kontext der Revolution, über Unterdrückung, die Rolle engagierter Intellektueller im Befreiungskampf und die der französischen Linken. Und natürlich über Fragen der Psychiatrie, die ja den Ausgangspunkt für das politische Engagement des Psychiaters Frantz Fanon bildeten.
In deutlichem Kontrast zu den intellektuell hochtrabenden Sprechblasen stehen die Illustrationen von Romain Lamy. Seine einfach gezeichneten, naiven Aquarelle in warmen Pastellfarben lassen den Sprechblasen viel Raum. Rückblenden, Träume und Momente, in denen die Leukämie Fanon zusetzt, sind klar von der Gegenwartsebene abgesetzt. Die deutsche Erzählung wird immer mal wieder um situativ passende Einwürfe auf Arabisch, Englisch, Französisch, Italienisch und vor allem Antillen-Kreolisch ergänzt, die in Fußnoten übersetzt werden. Eine schöne Verneigung vor dem Antikolonialisten Fanon.
Was besonders eingangs irritiert, ist die Eitelkeit, die Jean-Paul Sartre immer wieder zur Schau stellt. Simone de Beauvoirs Gedanke „Fanon wollte Sartre kennenlernen, aber ich glaube, Sartre hat Fanon kennengelernt“, dargestellt bei der Verabschiedung der illustren Runde, stimmt dann etwas versöhnlich. Sartre selbst stellt im Epilog, als er von Fanons Tod erfährt, fest: „Er wird immer bewegen und infrage stellen. (…) Wir beide kennen sein Leben durch das, was er uns in Rom dazu erzählt hat. (…) Auf jeden Fall genug, um ihn nicht in einer Hagiografie zu begraben, die sein Denken verraten würde.“
Diesen hehren Anspruch lösen Frédéric Ciriez und Romain Lamy ein.
Frantz Fanon starb am 6. Dezember 1961 im Alter von 36 Jahren in den USA. Er wurde in Algerien beigesetzt. Am 18. März 1962 begann mit der Unterzeichnung der Verträge von Évian der juristische Prozess der Unabhängigkeit Algeriens. Seit dem 3. Juli 1962 ist Algerien unabhängig. Fanons sterbliche Überreste ließ die algerische Regierung 1965 in ein Ehrengrab in Aïn Kerma überführen.
Frédéric Ciriez und Romain Lamy
Frantz Fanon
Aus dem Französischen von Michael Adrian
Hamburger Edition 2021, 20 x 26 cm, gebunden, 232 Seiten, 25,– Euro