Das Mitgliedervotum für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zeigt, dass eine Mehrheit der aktiven SPD-Mitglieder dem bisherigen Partei-Establishment nicht zutraut, die SPD aus der Krise zu führen. Der SPD-Parteitag beschloss einen Leitantrag, den der alte Vorstand zusammen mit dem neuen Führungsduo entwarf. Eine Spaltung der Partei sollte vermieden werden. Tatsächlich verlief der Parteitag verdächtig harmonisch. Der fast einstimmig verabschiedete Leitantrag soll, wie Saskia Esken formulierte, der Fortsetzung der GroKo „eine realistische Chance“ geben. Mit CDU/CSU will man Gespräche über Nachbesserungen beim Klimapaket, Infrastrukturinvestitionen und einen höheren Mindestlohn führen. Die Forderungen an die künftige Arbeit der GroKo blieben vage. Kevin Kühnert, der bekannteste GroKo-Gegner, bewarb den Leitantrag mit dem Argument, man könne der neuen SPD-Führung vertrauen, dass sie bezüglich der GroKo künftig richtige Entscheidungen treffe.
In Umfragen äußern mehr als 60 Prozent der Bevölkerung regelmäßig, die GroKo solle bis zum Ende der Legislaturperiode arbeiten. Zugleich sind etwa drei Viertel mit der Arbeit der GroKo „wenig bis gar nicht zufrieden“. Das scheint sich zu widersprechen. Doch was für eine Regierung käme bei den heutigen Kräfteverhältnissen im Fall des Zerbrechens der GroKo? Ein neuer Anlauf für Jamaika? Eine schwarze oder schwarz-gelbe Minderheitsregierung, die mit wechselnden Mehrheiten regiert? Damit liebäugeln Friedrich Merz und Teile des CDU-Wirtschaftsflügels. Letztere Variante könnte sich als informeller Türöffner für die AfD und ihr Projekt „bürgerliche Koalition“ entpuppen. Die Grünen sehen in Neuwahlen die „sauberste Lösung“. SPD und CDU wissen, dass zurzeit nur Grüne und AfD von Wahlen profitieren. Bei der Bevölkerungsmehrheit löst ein Sturz der GroKo zurzeit keine Hoffnung auf Fortschritt aus.
Gegen die GroKo spricht aus der Sicht von CDU/CSU und SPD, dass beide von Wahl zu Wahl weiter verlieren. Die bürgerliche Demokratietheorie sieht im Schrumpfen der „politischen Mitte“ und dem Wachsen der „Ränder rechts und links“ einen langfristigen Verlust an Stabilität. Diese Brille reduziert die Realität der antagonistischen Klassengesellschaft auf die Formen des nach Kompromiss strebenden bürgerlichen Parlamentarismus. Auch die SPD ist in diesem Denkmodell befangen, hat aber noch genügend Mitglieder, die im Berufsleben oder bei Gesprächen an Infotischen erfahren, dass der wahre Grund des Schrumpfens ihrer Partei weniger der GroKo anzulasten ist als der Agenda 2010, beschlossen 2003 von einer SPD-Grüne-Koalition unter dem Beifall von CDU/CSU und Kapitalverbänden. Schon Andrea Nahles war bestrebt, „Hartz IV hinter sich zu lassen“. Der Parteitag setzte diesen Kurs fort.
Hartz IV sei unter Schröder passend gewesen, aber heute nicht mehr zeitgemäß. Auf dieser halbherzigen Linie lassen sich die tiefen Einschnitte, die die neoliberale Deregulierung, Prekarisierung, Privatisierung und Umverteilung von unten nach oben brachte, nicht einfach wieder aus der Welt schaffen. Das käme dem Versuch gleich, den ausgerufenen „neuen Sozialstaat“ mitten in der „neoliberalen Pampa“ (Walter-Borjans) zu errichten. Erfreulich und verdienstvoll ist das Drängen vor allem der jungen SPD-Mitglieder, die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt zu rücken, für Reformen zu Lasten der Reichen zu streiten. Viele gute Forderungen wurden formuliert.
Sofern sie nur als Wahlprogramm dienen, werden sie Illusion bleiben. Sie können aber auch den gemeinsamen außerparlamentarischen Kampf erleichtern, zur dringend nötigen Stärkung der Arbeiterbewegung, der Friedensbewegung, sozialer Bewegungen im Gesundheitswesen, für bezahlbares Wohnen und mehr Klimaschutz beitragen. Wie sonst ließen sich heutige Verhältnisse nach links verschieben?