Politiker in der Türkei rufen dazu auf, Stromrechnungen nicht zu bezahlen

Verbrennen statt bezahlen

Die Türkei steckt in einer tiefen Währungskrise, die Preise für Lebensmittel und Energie steigen und steigen. Die Bürger gehen auf die Straße, die Wut auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamistische Regierungspartei AKP wächst. Gerade erst hat die Ratingagentur Fitch die Türkei weiter in den Ramschbereich geschoben und die Bewertung für langfristige Verbindlichkeiten von „BB-“ auf „B+“ gesenkt, in dem Anlagen als hochspekulativ gelten und vor Ausfällen gewarnt wird. Die weiteren Perspektiven bleiben „negativ“, so die US-Agentur. Es droht mithin eine weitere Herabstufung, was die Währungskrise weiter befeuern wird. Im vergangenen Dezember war die Inflation auf 36 Prozent gestiegen. Im Januar lag die Teuerungsrate bei über 48 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit fast 20 Jahren. Beobachter rechnen mit einem Ansteigen auf über 50 Prozent und einem Absinken auf etwa 27 Prozent bis zum Jahresende.

Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu absurd an, wenn Erdoğan eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel ankündigt. Die Steuer werde von 8 auf 1 Prozent gesenkt, sagte der Staatschef am vergangenen Wochenende. Dies werde „im Kampf gegen die Inflation helfen“. Reis, Fleisch, Obst, Gemüse, Speiseöl oder Milchprodukte etwa sollten so ab diesem Montag 7 Prozent günstiger werden. Fraglich, ob die Absenkung im einstelligen Prozentbereich bei nicht enden wollenden zweistelligen Preissteigerungen reicht.

Ein weiteres Problem bleibt dabei zumal außen vor. Zum Jahreswechsel waren die Energiepreise explodiert. Die Strompreise für Haushalte wurden auf Anweisung der Regierung um über 50 Prozent angehoben, bei gewerblichen Kunden sogar um 127 Prozent. Das trifft vor allem die vielen Kleinunternehmen schwer. Und auch die Bürger sorgen sich mittlerweile weniger vor einer Covid-Infektion als vor der nächsten Stromrechnung. Im ganzen Land gehen die Menschen auf die Straße. Immer häufiger kommt es zu Protestaktionen, bei denen Bürger öffentlich die Rechnungen ihrer Energieversorger verbrennen – aus Wut und Verzweiflung, sie können sie ohnehin nicht mehr bezahlen. Sie folgen damit einer Initiative des Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP, Kemal Kiliçdaroğlu, der zu zivilem Ungehorsam aufgerufen hat: „Ich werde meine Stromrechnung nicht mehr bezahlen, bis Erdoğan seine Preiserhöhung zurücknimmt“, schrieb er auf Twitter. Kiliçdaroğlu rief zur Nachahmung auf: „Nur gemeinsam können wir diese Grausamkeit beenden.“ Zugleich startete der Oppositionschef eine Protestkampagne in den sozialen Medien. Die Menschen sollen ihre Stromrechnungen auf Twitter posten, Hashtag „Ich bezahle nicht“. Neben der Rücknahme der dramatischen Preiserhöhung fordert Kiliçdaroğlu eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Strom von 18 auf 1 Prozent sowie die Einrichtung eines Hilfsfonds für Geringverdiener und sozial Bedürftige.

Erdoğans Umfragewerte sind im Sinkflug. Fast zwei Drittel der Bevölkerung äußern sich aktuellen Umfragen zufolge unzufrieden mit der Arbeit der Regierung, das heißt, selbst Anhänger aus den Reihen der AKP und ihres faschistischen Partners MHP. Erdoğans AKP kommt auf nicht einmal mehr die Hälfte der Stimmen der letzten Wahl 2018. Die Regierungsislamisten sind demnach von 42,6 Prozent auf 23,3 Prozent abgestürzt. Erdoğan selbst kommt auf nur noch rund 35 Prozent. Von seiner Warte aus sind das keine guten Aussichten für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die spätestens im Juni 2023 stattfinden.

Am Wochenende haben sich die CHP und fünf weitere Oppositionsparteien auf eine gemeinsame Strategie zur Ablösung Erdoğans verständigt. Gemeinsames Ziel dieser „großen nationalen Allianz“ sind die Abschaffung des von dem Autokraten eingeführten Präsidialsystems und eine Stärkung des Parlaments. Weitere Details zu den Absprachen sollen Ende des Monats veröffentlicht werden. Es wird am Ende um eine Verständigung auf einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan für die Wahlen im kommenden Jahr gehen. Beteiligt am Zusammenschluss sind die größte Oppositionspartei CHP, die MHP-Abspaltung Iyi-Partei, die islamistische Saadet-Partei, die Demokratische Partei DP, die Partei für Demokratie und Fortschritt (Deva) und die Zukunftspartei. Die Demokratische Partei der Völker HDP war (noch) nicht einbezogen.

Im türkischen Sender „Halk TV“ sprach Kiliçdaroğlu von einem „Meilenstein in unserer politischen Geschichte“. Um die Türkei „ans Licht zu bringen“, habe man sich „vorgenommen, Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit umzusetzen und wirtschaftliche Probleme zu lösen“. Vorwürfe, dass die prokurdische HDP außen vor gelassen werde, wies er zurück. „Wir ignorieren die HDP nicht. Wir können keine Partei ignorieren. Wenn wir das tun, bedeutet das, dass wir nicht an die Demokratie glauben.“ Die Diskussionen unter den Beteiligten würden fortgesetzt: „Wir sprechen auch mit der HDP“.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Verbrennen statt bezahlen", UZ vom 18. Februar 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Herz.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit