Meine Freundin Nina wird am 1. Dezember 70

Verantwortung wahrnehmen

Ellen Brombacher

Ab und an treffen wir uns in ihrer Wohnung und quatschen über Marx und die Welt. Unsere Sorgen ähneln sich, wie unsere Bereitschaft sich gleicht, das zu tun, was heute nötig ist – das wenige Mögliche, das so viel Kraft kostet.

Wir lernten uns kurz nach jener Wende kennen, die die Restauration des Kapitalismus auch im Osten Deutschlands einleitete. Nina gehörte zu denen, die sehr nachdenklich dennoch bei ihren grundlegenden Überzeugungen blieben: Kapitalismus ist zivilisationszerstörend. Sozialismus gewagt zu haben bleibt legitim. Anfang der 90er Jahre war diese Haltung auch unter Linken keine Selbstverständlichkeit. Heute auch nicht!

Nina, eine DDR-Intellektuelle, studierte von 1968 bis 1973 Physik, verteidigte drei Jahre später ihre Dissertation und 1987 habilitierte sie sich mit der B-Promotion „Mensch und Kosmos in der wissenschaftlich-technischen Revolution (philosophisch-weltanschauliche Aspekte)“. Doch ihre weltanschauliche Position kommt nicht nur aus ihrer geschulten rationalen Intelligenz. Emotionale Intelligenz zeichnet sie ebenso aus. Sie begegnet Menschen frei von jeglichem Zynismus. Sie ist warmherzig, ausgestattet mit einer schönen Portion jüdischen Humors. Sie schüttete sich fast aus vor Lachen, als sie mir vor einigen Jahren eine Geschichte erzählte, die ihr damals etwa dreijähriger Enkel Alejandro mitverfasst hatte. Sie hatte ihm aus einem Kinderbuch vorgelesen, welches den Kleinen Geschichte nahebringen soll. Darin kam auch der griechische König Alexander der Große vor. Der habe Krieg geführt und sei bis nach Indien gekommen. Dann erklärte Nina kindgemäß, warum Krieg etwas ganz Schlimmes ist und nannte Alexander in diesem Zusammenhang spanisch „Alejandro“. Empört teilte ihr der Enkel mit: „Das war ich nicht!“

Wenn Nina über ihn spricht, leuchten ihre Augen. Nicht zuletzt für diejenigen, die das Leben noch vor sich haben, die nicht umkommen sollen in einem atomaren Inferno oder einer völlig zerstörten Umwelt, macht sie Politik: Als stellvertretende DKP-Vorsitzende, Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, Chefredakteurin der UZ und an der Basis ihrer Partei. Eine persönliche Bemerkung sei hier gestattet. Für Nina ist es ebenso wenig ein Problem, dass ich als Kommunistin in der Partei „Die Linke“ aktiv bin, wie es für mich je ein Problem war, dass Nina die PDS verließ und Mitglied der DKP wurde. Aus antifaschistischen, kommunistischen Elternhäusern kommend, bleiben wir beide den Werten treu, die von Kindheit an unseren Weg prägten. Wir wissen um die Widersprüchlichkeit dieses Weges, gepflastert auch mit Unrecht. Die Richtung jedoch ist alternativlos. Die Eigentumsfrage ist und bleibt das Entscheidende.

Jahr für Jahr gehört Nina zu denen, die als Mitglied der Demo-Leitung an der Spitze der Demonstration im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung marschieren. Angespannt von Anbeginn bis zum Eintreffen auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Wird es gut gehen, ohne Provokationen? Werden es viele sein, vielleicht sogar mehr als in den Jahren zuvor? Auf den Bündnissitzungen bringt Nina, die seit Anbeginn dabei ist, ihre Erfahrungen ein. Ruhig und überlegt. „Wenn man Verantwortung übernimmt, muss man sie wahrnehmen“, sagte Nina mir kürzlich in einem Telefonat.

Ein Motto ihres Lebens. Zu ihrem Siebzigsten wünsche ich ihr Gesundheit, weiterhin sehr viel Kraft und das Quäntchen Glück, welches heutzutage möglich ist. Und ich sage Danke für Freundschaft und Vertrauen.

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"Verantwortung wahrnehmen", UZ vom 27. November 2020



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