Ende Oktober letzten Jahres führte die Tageszeitung „junge Welt“ gemeinsam mit dem Kulturmagazin „Melodie & Rhythmus“ eine Konferenz unter dem Titel „Der Bandera-Komplex“ in Berlin durch. Vor Kurzem veröffentlichte der Verlag 8. Mai das gleichnamige Buch, das die Konferenz-Referate zur Geschichte sowie zu den Funktionen und Netzwerken des ukrainischen Faschismus beinhaltet. Sie werden aufgewertet durch einen umfangreichen Quellenapparat und Artikel, die in der „jungen Welt“ zum Thema erschienen. Wir drucken hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags einen redaktionell leicht bearbeiteten Auszug aus dem Vorwort ab.
Seit dem „Euromaidan“-Putsch und Beginn der Strafexpedition der Kiewer Truppen gegen die widerständige Bevölkerung in der Donbassregion, allemal seit dem Einmarsch russischer Truppen, nimmt ein infernaler Pakt Konturen an: Auf NATO-Standard hochgerüstete Banderisten- und Neonazibanden fungieren als „Hurensöhne“ des Westens (auch gegen die linke Opposition und alle anderen Menschen in der Ukraine, die ein Ende des Krieges und eine friedliche Verständigung mit Russland wollen). Die Kampfverbände von „Asow“ und „Rechter Sektor“ ziehen mit von Washington und Berlin gelieferten neuen Waffen, etwa modernen Schützen-, Pionier- und Kampfpanzern, und den alten Symbolen (etwa dem Balkenkreuz der Deutschen Wehrmacht, dem Totenkopf der Waffen-SS et cetera) in die Schlacht gegen die „Sowoks“, wie die Russen bis heute genannt werden. Dass ihre Mission die gleiche ist wie damals – daran lassen sie keinen Zweifel aufkommen: Ihre Neigung zur Hitlerverehrung sei „Ausdruck des totalen Widerstands gegen das bolschewistische Establishment“, stellte ein „Asow“-Kommandeur klar, dass der Kommunismus bis heute Todfeind Nummer eins ist.
Sachzwänge
Der im Bunde mit Stepan Banderas Enkeln ausgelebte deutsche „Drang nach Osten“, diesmal NATO-gestützt, produziert ideologische Sachzwänge. Genüge getan werden kann diesen nicht allein mit Verschweigen, Verharmlosen, auch nicht mit Desinformation, wie sie zum Beispiel Sabine Adler im öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk verbreitet – sie hatte schon kurz nach dem Regime Change in Kiew Dmitro Jarosch, einen Anführer des „Rechten Sektors“, erzählen lassen, der Name seiner banderistischen Faschistenmiliz habe „überhaupt nichts mit einer politischen Ausrichtung zu tun“. Die durch vergangenheitspolitische Amnesie der Zeitenwende geschaffenen Leerstellen im kollektiven Gedächtnis müssen auch mit neuen Identifikationsmodellen gefüllt werden. Für den Stellvertreterkrieg mit Stellvertreterarmeen muss ein stellvertretender Nationalismus her: Die Ukrainer werden als zum letzten Blutopfer bereites „Heldenvolk“ bewundert – als die wahren Deutschen.
Was man sich hierzulande noch verkneifen muss – „C14“ und andere faschistische Schlägerbanden dürfen es im Namen der „Freiheit und Democracy“ des Kollektiven Westens rufen, wenn sie Kriegsgegner verprügeln: „Ukraine über alles!“ In den „Titanen des Mutes“, den ukrainischen Nationalgardisten und Armeeangehörigen, die die deutsche Öffentlichkeit 2022 als Hauptdarsteller einer „antiken Tragödie“ in Mariupol mit Götterdämmerungspotenzial auserkoren hatte, spiegelt sich das 1945 verlorengegangene Ich-Ideal des „Rassekriegers“, der den „Endsieg“ bringt. Die Kämpfe um das Hüttenwerk Asowstal wurden als Déjà-vu der Schlacht um Stalingrad erlebt, für die der glückliche Ausgang herbeigefiebert wurde, der Deutschland damals schmerzlich versagt geblieben war. Aus der Propagandamedienmaschine tönt sogar wieder der „Deutsche Wochenschau“-Optimismus: „Auf den Tag und die Stunde genau 81 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion begann der ‚deutsche Angriff‘ auf Russlands Invasionsarmee: Seit heute Morgen, 4:00, ist die Panzerhaubitze 2000 im Gefecht“, verkündete „Bild“-Politikchef Julian Röpcke am 22. Juni 2022.
Neue und alte Freunde
Und so bleibt kaum mehr ein Tabu ungebrochen in der politischen Kultur der Bundesrepublik: Im Auswärtigen Amt wurden 2023 Vertreter der „Asow“-Bewegung empfangen. In der ukrainischen Delegation für das Treffen der Ukraine Defense Contact Group (mit Präsident Wladimir Selenski, den Verteidigungsministern Deutschlands und der USA wie auch anderen hochrangigen NATO-Vertretern) am 6. September 2024 auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein fand sich ein international bekannter Neonazi aus der „Asow“-Brigade, der in den sozialen Medien mit Hakenkreuzsymbolen posiert hat. Mit Steuergeldern geförderte deutsche Bildungsinstitutionen und Denkfabriken laden Funktionäre der OUN-B und andere ukrainische Faschisten zu Veranstaltungen ein. Und die Polizei schaut routiniert weg, wenn Ukrainer auf deutschen Straßen „Asow“-Fahnen mit der SS-Wolfsangel schwenken.
Die Berliner Republik mausert sich sukzessive zum sekundären Globke-Staat. Durch die Erneuerung des Bündnisses mit banderistischen und nazistischen Bewegungen, die in der Tradition ukrainischer Hitlerkollaborateure stehen, werden objektiv auch die unter Konrad Adenauer westintegrierten alten Nazis, deren Befehle sie einst empfangen hatten, entlastet, perspektivisch auch rehabilitiert.
Großväter und Enkel
Einen Anfang machte bereits 2021 die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock, einige Monate vor ihrem Amtsantritt als Außenministerin Deutschlands, mit einer ungeheuerlichen Positionsbestimmung, in der sie den Einsatz ihres Großvaters als Soldat der Deutschen Wehrmacht beim Endkampf gegen die heranrückende Rote Armee 1945 als wertvollen Beitrag für ein geeintes Europa pries: Sie stehe historisch „nicht nur auf den Schultern“ von Joseph Fischer, sondern auch „auf den Schultern“ ihrer Großeltern, plauderte Baerbock in einem Interview mit der US-amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council, die heute eine wichtige Schnittstelle zwischen der Bandera-Lobby und der US-Regierung bildet. „Und das ist der Boden, auf dem ich stehe.“ Baerbock gehörte, wie auch einige ihrer Parteikollegen, zu den Stipendiaten des transatlantischen German Marshall Fund, der von der United States Agency for International Development, einem wichtigen Regime-Change-Instrument der US-Regierung, und NATO-Ländern finanziert wird. Bedenkt man, dass in der Grünen-Partei die Neocon-Weltanschauung dominiert, gekennzeichnet nicht zuletzt durch einen hysterischen Doppelmoralismus und ein aggressives Sendungsbewusstsein, so muss dieses Bekenntnis zum Geschichtsrevisionismus als wegweisend begriffen werden.
Zerstörte „Linke“
Flankiert wird diese fatale Entwicklung durch eine „posthume Adenauersche Linke“, die die Westbindung nicht mehr infrage stellt, wie der rechtsliberale Historiker Heinrich August Winkler richtig und mit Erleichterung feststellte. Damit erweist sie sich als Zerfallsprodukt eines dramatischen Niedergangs: des vorläufigen, 1989 von dem Politikwissenschaftler Francis Fukuyama – übrigens ein „Asow“-Bewunderer – als „Ende der Geschichte“ ausgerufenen Sieges des kapitalistischen Prinzips und US-Imperiums sowie der Zerschlagung der DDR als Anti-Globke-Staat. Dass diese liberalisierte Linke den NATO-Machtblock oftmals als historische Versicherungspolice gegen gefährliche neue deutsche Sonderwege wähnt und ihre Integration nicht als Kapitulation erkennt, sondern als Errungenschaft feiert, ist bestenfalls einem undialektischen Verständnis der kapitalistischen Zivilisation geschuldet, das deren barbarischen Wesenskern ausblendet – meistens aber einem ordinären Opportunismus.
Damit ging unweigerlich der Abschied von marxistischen Faschismustheorien einher. Dieser verhalf der von Antikommunismus durchwirkten Nazigegnerschaft, die sich in Wissenschaft und Politik der postfaschistischen BRD etabliert hatte, auch in der gesellschaftlichen Linken zum Durchbruch: Antifaschismus als Kampf für den Sozialismus wurde weitgehend durch einen Kreuzzug „gegen das autoritäre Böse“ (das ausschließlich unter den Feinden des Westens ausgemacht wird) und revolutionäre Wut durch infantile „Wokeness“ ersetzt. „Wo der Antifaschismus eine Phrase ist, perpetuiert er Faschistisches“, so ein zentraler Befund von Wolfgang Fritz Haug in seiner Studie „Der hilflose Antifaschismus“ von 1967.
Daher sollte nicht überraschen, dass der sozialchauvinistische Flügel der Partei „Die Linke“ in volksgemeinschaftlicher Harmonie mit der Bundesregierung ukrainische Nationalisten unterstützt und billigend in Kauf nimmt, wenn auf deren Kundgebungen der Kult um die – von seinen Abgeordneten als „umstritten“ verharmloste – Figur Stepan Banderas zelebriert wird. So ist es auch nur konsequent, dass autonome Gruppen die Losung „Antifa heißt Waffenlieferungen“ ausgeben, das Friedenslager attackieren und die Repression gegen Kommunisten und marxistische Parteien in der Ukraine beklatschen. Ebenso, dass Anarchisten Gelder für die Aufrüstung von ukrainischen Bataillonen akquirieren, auch für faschistische. Und dass 2017 mit Klaus Lederer ein linker Kultursenator in der deutschen Hauptstadt Fördermittel für ein Bandera-Musical bereitgestellt hat, ist mehr als ein schlechter Treppenwitz der jüngeren Geschichte der Berliner Republik. Solche Akte der Konsumierbarmachung des Verabscheuungswürdigen können bestenfalls als Lossagung vom Buchenwaldschwur verstanden werden, objektiv stellen sie einen Beitrag dar, den Faschismus zu ästhetisieren.
Susann Witt-Stahl (Hg.):
Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke
Verlag 8. Mai, Berlin 2024, 350 Seiten, 23,90 Euro
Auf der Konferenz sprach der Publizist Moss Robeson aus New York City unter der Überschrift „Dreizack, Hakenkreuz, Adler“ über die Ursprünge des Banderismus und dessen Verbindungen zum deutschen Faschismus. Seinem zweiten Referat gab er den Titel „Demaskierung der Bandera-Lobby“. Darin vermittelte er einen Einblick in die weitverzweigten Netzwerke, vor allem in den USA.
Der Autor Russ Bellant aus Detroit forscht zum Faschismus in den USA. Er widmete sich dem Thema „Banderisten und Hitlerkollaborateure aus Osteuropa als Instrumente der USA im Kalten Krieg“.
Jürgen Lloyd, Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, untersuchte die „Kompromisslose Durchsetzung der Maximalinteressen des Monopolkapitals“.
Zum Abschluss der Konferenz fand eine Gesprächsrunde zum Thema „Ukrainische Faschisten und die Bandera-Lobby – Scharfmacher für den Dritten Weltkrieg?“ statt. Neben Russ und Bellant nahmen daran die UZ-Autoren Jörg Kronauer und Arnold Schölzel teil. Es moderierte der damalige Chefredakteur der „jungen Welt“, Stefan Huth. Verständlicherweise konnte die Talkrunde nicht in den Sammelband aufgenommen werden. Sie kann aber online angesehen werden.