Pflegekammer in NRW steht auf tönernen Füßen

ver.di stellt die stärkste Liste

Eine von der Landesregierung beauftragte Befragung unter 1.500 Pflegefachkräften in Nordrhein-Westfalen im letzten Quartal 2018 hatte ergeben, dass sich 79 Prozent der Befragten für die Etablierung einer Pflegekammer aussprechen. Obwohl dies mit 0,54 Prozent aller Pflegefachkräfte wahrlich nicht als repräsentativ bezeichnet werden kann, stimmten die Regierungsparteien CDU, FDP und Bündnis90/Die Grünen dem Gesetz zur Errichtung einer Pflegekammer in NRW zu. Mit der Wahl zur Pflegeversammlung erreichte die Errichtung der Pflegekammer ihren ersten Höhepunkt. Hierbei erhielten die Listen der Gewerkschaft ver.di etwa ein Viertel aller Stimmen. Wir sprachen mit Detlev Beyer-Peters, der auf der ver.di-Liste im Wahlkreis Münster für den Bereich Altenpflege auf dem 1. Platz kandidierte, mit 46 Prozent landesweit das beste Ergebnis erzielte und in die Kammerversammlung gewählt wurde.

UZ: Wieviele ausgebildete Beschäftigte im Pflegebereich sind eigentlich von der Pflegekammer in NRW betroffen und welche Legitimation kann die Pflegekammer daraus ziehen?

Detlev Beyer-Peters: Schon über die Zahl der ausgebildeten Pflegefachpersonen in NRW scheint erheblich Unklarheit zu bestehen. Während der Errichtungsausschuss der Pflegekammer NRW auf seiner Homepage mal von 220.000 und mal von etwa 200.000 betroffenen Kolleginnen und Kollegen spricht, wird in der Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung „Berufseinmündung und Berufsverbleib in der Pflege in NRW“ aus diesem Jahr von insgesamt 274.396 qualifizierten Pflegefachkräften (189.876 Gesundheits- und Krankenpflegende und 84.520 qualifizierte Altenpflegende) ausgegangen. Bei der Bewertung der Zahl der registrierten Pflegefachpersonen lege ich die letztgenannten Zahlen aus der diesjährigen dip-Studie zugrunde.

Demnach haben sich mit Stand vom 12. September 2022 – nachdem schon ein Jahr nach der ersten Aufforderung zur Registrierung vergangen ist – erst 101.951 Pflegefachpersonen registrieren lassen. Das entspricht gerade einmal 37,15 Prozent aller Pflegefachkräfte in NRW. Dabei muss jede Pflegefachperson, die sich nicht registrieren lässt, am Ende mit einem Zwangsgeld von bis zu 2.000 Euro rechnen. Dieses Zwangsgeld kann sogar mehrfach erhoben werden. Viele von ihnen wissen weder mit dem Begriff der Pflegekammer noch mit deren Aufgaben etwas anzufangen. Es ist also offensichtlich, dass die Errichtung der Pflegekammer in NRW nicht auf große Begeisterung bei den Pflegefachpersonen stößt.

UZ: Zuerst einmal unsere Gratulation zu deinem Ergebnis und deiner Wahl. Wie bewertest du das Ergebnis?

Detlev Beyer-Peters: Von den 98.534 wahlberechtigten Mitgliedern der Pflegekammer NRW – etwa 3.000 der Registrierten sind übrigens nicht anerkannt worden – haben sich gerade einmal 22,1 Prozent an der Wahl beteiligt. Von den 71.151 Wahlberechtigten aus der interdisziplinären Pflege beteiligten sich 16.992 Pflegekräften und von den 27.383 Wahlberechtigten aus der Altenpflege 4.787. Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, dass das Wahlinteresse in der Altenpflege geringer als in der interdisziplinären Pflege ausgefallen ist. Außerdem ist es sehr bedenklich, dass die Pflegeversammlung nur von 8 Prozent aller Pflegefachkräfte in NRW gewählt worden ist. Trotzdem konnte die Gewerkschaft ver.di insgesamt 16 von 60 Sitzen erkämpfen und bildet damit die größte Fraktion in der Pflegeversammlung. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ver.di sich von Anfang an gegen die Errichtung einer Pflegekammer ausgesprochen hat und vor allem mit dem Ziel kandidiert hat, die Pflegekammer wieder abzuwickeln, ist das Wahlergebnis durch ver.di-NRW als ein beachtlicher Erfolg gewertet worden.

UZ: Was wird die erste Initiative der ver.di-Vertreter in der Kammerversammlung sein?

Detlev Beyer-Peters: Die ver.di-Vertreter werden sich vor der konstituierenden Pflegeversammlung am 16./17. Dezember im CongressCenter in Düsseldorf treffen, um die Versammlung vorzubereiten, auf der unter anderem die Geschäftsordnung beschlossen und die Gremien der Pflegeversammlung gewählt werden. Ich gehe davon aus, dass hier auch schon darüber beraten wird, ob und auf welche Weise eine Mehrheit in der Pflegeversammlung für die Forderung nach einer demokratischen Vollbefragung aller Pflegefachkräfte über die Zukunft der Pflegekammer NRW gewonnen werden kann.

UZ: Was ist deine grundsätzliche Kritik an der Pflegekammer?

Detlev Beyer-Peters: Ich weiß, dass wir nur mit einer starken Unterstützung politische und betriebliche Veränderungen im Interesse der Beschäftigten in den Einrichtungen der Altenpflege durchsetzen können. Diese Aufgabe kann meines Erachtens am besten die Gewerkschaft ver.di erfüllen. Ich setze daher keine sehr großen Hoffnungen in eine bürokratische Institution, wie es die Pflegekammer NRW sein wird.

Die Pflegekammer soll Aufgaben wahrnehmen, die bisher durch das Land NRW zu erfüllen waren. Die Kosten dafür müssen zukünftig von den Zwangsmitgliedern der Pflegekammer getragen werden. Pflichtmitgliedschaften und -beiträge erhöhen aber nicht die demokratische Legitimation, mal abgesehen davon, dass Pflegefachkräfte nur ein Teil der Beschäftigten sind, die an der Durchführung der Pflege von Menschen beteiligt sind.

Gerade in den vollstationären Pflegeeinrichtungen wird sich im nächsten Jahr die Zahl der Pflegefachkräfte weit unterhalb von 50 Prozent entwickeln. Außerdem ruht die Pflegekammer in NRW auf einem äußerst schmalen demokratisch begründeten Fundament. Nach zahlreichen öffentlichen Protesten gegen die Errichtung der Pflegekammer hatte das Land NRW als Beruhigungspille die Pflegekammer von ihrer Pflicht entbunden, von ihren Mitgliedern Beiträge zu erheben. Die damit entfallende Refinanzierung der Kammer übernimmt nun der Landeshaushalt. Bis 2027 soll die Pflegekammer mit rund 50 Millionen Euro finanziert werden. Danach werden die registrierten Mitglieder der Pflegekammer in NRW monatlich ihre Zwangsbeiträge zu entrichten haben, was deren Bereitschaft, Mitglied zu bleiben, erheblich schwinden lassen wird.

UZ: Siehst du überhaupt Möglichkeiten, dass die Pflegekammer die Situation der Altenpflegerinnen und Altenpfleger real verbessern kann?

Detlev Beyer-Peters: In zentralen Fragen wie zum Beispiel Bezahlung der Pflegekräfte, Verbesserung der Personalbesetzung und Gestaltung der Arbeitszeit in der Pflege sehe ich keine Durchsetzungsmöglichkeiten über die Pflegekammer. Denn diese hat eben keinen Einfluss auf die Träger der Unternehmen und deren Einrichtungen. Solange es aber die Pflegekammer in NRW gibt, werden wir die wenigen Möglichkeiten der Pflegekammer NRW nutzen, um konkrete Interessen der Pflegefachkräfte einzubringen und den Wünschen und Hoffnungen der Beschäftigten zusätzliches Gewicht zu verleihen. Dazu kann die Pflegekammer ihre politischen Beratungs- und Mitspracherechte beim Land NRW in Anspruch nehmen.

UZ: Wie wirst du diese wenigen Möglichkeiten der Pflegekammer NRW nutzen?

Detlev Beyer-Peters: Ich werde mich beispielsweise dafür stark machen, dass das Land NRW seiner Verpflichtung gemäß Paragraph 35 Absatz 3 des Infektionsschutzgesetzes nachkommt, endlich eine Verordnung über die Hygiene und den Infektionsschutz in vollstationären Pflegeeinrichtungen zu erlassen. Der Petitionsausschuss des Landes NRW hat eine solche Verordnung für notwendig erachtet. In diesem Beschluss heißt es konkretisierend: „Dazu ist nach Auffassung des Petitionsausschusses unter anderem eine strikte Trennung bei der Verwendung von Arbeits- und privater Kleidung nötig. Insbesondere sollten Einrichtungen verpflichtet werden, den Beschäftigten der Einrichtungen Arbeitskleidung zu stellen, die diese ebenso verpflichtend zu verwenden haben.“ Solange das Land NRW nicht tätig geworden ist, muss darum gerungen werden, dass dieser Beschluss in die Tat umgesetzt wird (siehe hierzu auch UZ vom 17. April 2020 und vom 27. November 2020).

Ein Schwerpunkt der Pflegekammer ist die Sicherstellung der Pflege der Bevölkerung auf aktuellem pflegewissenschaftlichem Niveau. Dazu sollen die Pflegefachkräfte zur Fort- und Weiterbildung verpflichtet werden, für deren Aufwand die Pflegefachkräfte selbst aufkommen sollen. Hier müssen wir Sorge dafür tragen, dass Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen finanziell durch die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft und durch Förderungen des Land NRW getragen werden und dass keine Sanktionen gegen Beschäftigte wegen des Verstoßes gegen ihre Berufspflichten zugelassen werden.

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"ver.di stellt die stärkste Liste", UZ vom 18. November 2022



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