Orhan Akman kandidiert für Bundesvorstand

ver.di neu ausrichten

Am 18. September wird auf dem ver.di-Bundeskongress der Bundesvorstand gewählt. Für das Gremium kandidiert Orhan Akman, der ehemalige Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel bei ver.di. Dass Akman für den Bundesvorstand seiner Gewerkschaft kandidiert, ist nicht selbstverständlich. Der bisherige Bundesvorstand versuchte ihn mithilfe arbeitsrechtlicher Maßnahmen – darunter mehrere fristlose Kündigungen – loszuwerden. Der Konflikt ist jedoch ein inhaltlicher, in dem es um die Ausrichtung von ver.di geht. Wir dokumentieren deshalb einen Auszug aus Akmans Vorschlägen „für eine schlagkräftigere Gewerkschaft“, mit denen er sich um ein Mandat auf dem Bundeskongress bewirbt.

Etwa eine Million Mitglieder haben unsere Gewerkschaft seit ihrer Gründung im Jahr 2001 verlassen. Wir müssen uns eingestehen, dass sich ver.di in einer Krise befindet, wir müssen sie benennen und analysieren, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. (…)

370304 Orhan Akman WEB e1694609455618 - ver.di neu ausrichten - Gewerkschaft, Neuausrichtung, Orhan Akman, ver.di-Bundeskongress - Wirtschaft & Soziales
Orhan Akman

Für eine Neuausrichtung unserer Gewerkschaft, die nah an den Mitgliedern und nah an Betrieb und Dienststelle sein muss, müssen wir die Finanzströme und die gesamte politische Kraft unserer Gewerkschaft in die Arbeit vor Ort und in die Betriebe/Dienststellen lenken. Unsere Mitglieder müssen in allen Bereichen in das Zentrum der Entscheidungen und der gewerkschaftlichen Aktivitäten rücken. Die Gewerkschaft als Organisation darf nicht als Selbstzweck gesehen und gelebt werden. Unsere Gewerkschaft steht auf dem Kopf, wir müssen sie wieder auf die Füße stellen. Wir müssen ver.di aus der Sicht der Mitglieder und aus dem Blickwinkel des Betriebes denken und aufbauen. (…)

Als Folge der Verschmelzung von fünf Quellgewerkschaften verfügt ver.di über eine sehr komplexe Organisationsstruktur. (…) Die sogenannte Matrix, die ver.di in Organisationseinheiten wie Bezirk, Landesbezirk und Bundesebene sowie nochmal Fachbereiche, Fachgruppen und dazu noch in Personengruppen wie Frauen, Migrantinnen, Erwerbslose, Solo-Selbstständige, Jugend etc. aufteilt, hat uns nicht nach vorne gebracht und ist überholt. (…) Wir brauchen dringend eine Organisationsstruktur mit weniger interner Bürokratie und stattdessen größtmöglicher Nähe zu den Betrieben und Dienststellen, nahe bei den Mitgliedern. (…)

Die ver.di-Fachbereiche müssen dort zusammenrücken, wo es inhaltlich Sinn ergibt und die Gewerkschaft insgesamt stärkt. Das wird am Beispiel der Logistik deutlich. Es bestehen enge Verbindungen zwischen der Handels-, der Speditions-, Post- sowie der Hafen- und Luftfahrtlogistik; die gewerkschaftliche Durchsetzungskraft könnte durch ein gemeinsames Vorgehen gestärkt werden. Und wir sollten darüber nachdenken, unsere Strukturen nach Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst (inklusive Tochter- und Einzelunternehmen) aufzuteilen.

Tarifverträge und Tarifpolitik sind unser Kerngeschäft. Doch gerade in diesem Bereich verlieren wir zusehends an Boden, davon dürfen auch kurzfristige Erfolge nicht ablenken. Bei Zukunftsthemen der Beschäftigten wie Digitalisierung und Automatisierung steckt unsere Gewerkschaft inhaltlich oft noch in den Kinderschuhen. Vor allem seit dem von den verschiedenen Bundesregierungen politisch gewollten weitgehenden Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit von Flächen- und Branchentarifverträgen ist ein anderer Ansatz in der gewerkschaftlichen Tarifpolitik notwendig. Solange unsere politische und organisatorische Kraft für eine Rückkehr zu landesweit (und international) geltenden Arbeitsbedingungen nicht ausreicht, sollten wir den Abschluss von Haus-, Sparten- und Anerkennungstarifverträgen forcieren. (…)

Wenn wir nicht wissen, wo wir hinwollen, wie wir uns die Zukunft vorstellen, können wir auch heute keinen klaren Kurs steuern und keine überzeugenden Antworten auf gesellschaftspolitische Probleme und Herausforderungen geben. Wir brauchen in und für unsere Organisation nicht nur Fachleute, die in ihren jeweiligen Bereichen fachlich und juristisch fit sind. Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen, die bewusst als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für unsere gemeinsamen Ziele arbeiten. Dafür ist unsere gewerkschaftliche Bildungsarbeit entscheidend. Es muss Schluss sein mit der immer weiteren Einschränkung der Angebote, wir müssen unsere gewerkschaftliche Bildungsarbeit und unsere gewerkschaftlichen Bildungsstätten ausbauen und stärken.

In Sonntagsreden heben wir gerne die Bedeutung unserer gewerkschaftlichen Arbeit für und mit Frauen, Migrant‘innen, Jugendlichen, Erwerbslosen, Solo-Selbstständigen, Rentnerinnen und so weiter hervor. Tatsächlich jedoch fällt diese Arbeit viel zu oft aus Zeitmangel hinten runter. Wenn wir unsere Jugendarbeit in den Bezirken und Fachbereichen stärken wollen, dürfen nicht weiterhin bloß Bruchteile wie 0,1- oder 0,2-Stellen-Anteile für die gesamte Jugendarbeit eines Bezirkes oder Fachbereiches zu Verfügung stehen. Notwendig sind ganze Stellen für die Jugendarbeit und je nach Bereich auch ein spürbarer Ausbau der Kompetenzen für andere Personengruppen mit ihren spezifischen Anliegen und Problemen.

Ohne Migrantinnen und Migranten wären ganze Unternehmen und zum Teil ganze Branchen kaum funktionsfähig. In den Dienstleistungsbranchen sind sie sehr präsent und in der Regel sehr offen dafür, in die Gewerkschaften einzutreten und sich auch aktiv zu beteiligen. In einigen Branchen wären unsere Streiks und Aktionen ohne Migrantinnen und Migranten kaum noch vorstellbar. Als Gewerkschaft sind wir gut beraten, in die Arbeit für die Gewinnung neuer ver.di-Mitglieder aus diesem Kolleginnen- und Kollegenkreis zu investieren. Dazu müssen die Migrationsausschüsse in den Bezirken mit mehr Finanzen und – auch hauptamtlichen – Ressourcen ausgestattet werden.

ver.di ist mit mehr als einer Million Gewerkschafterinnen eine der größten Frauenorganisationen in Deutschland. Danach muss auch die Frauenarbeit in unserer Gewerkschaft ausgerichtet werden. Sie ist keine Spezialaufgabe des Bereichs FuG, um die sich die anderen Strukturen nicht kümmern müssen, sondern ständige Aufgabe unserer gesamten Organisation! Und auch die Arbeit mit unseren Erwerbslosen und Rentnerinnen verdient mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung unserer Organisation. (…)

Als Gewerkschaften sind wir dem Frieden verpflichtet, denn ohne Frieden kann es keine Gewerkschaften geben. Wir dürfen uns deshalb von einer konsequenten Friedenspolitik nicht abbringen lassen, auch nicht zugunsten des politischen Mainstreams oder der Politik bestimmter Parteien. Daher lehne ich den eingebrachten Leitantrag (Antrag E 096) mit dem Titel „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ ab. Setzen wir uns kompromisslos gegen Kriege, Aufrüstung und Militarisierung ein, für den Frieden weltweit!

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"ver.di neu ausrichten", UZ vom 15. September 2023



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