Im Vorfeld des ver.di-Bundeskongress sprach die UZ mit drei der Delegierten über ihre Erwartungen.
UZ: Welche Erwartungen habt ihr an den Bundeskongress?
Jan Schulze-Husmann: Ich bin sehr gespannt. Dieser Kongress steht im Zeichen des Umbruchs. Vor allem auf der personellen Seite, aber auch innerorganisatorisch. Zukünftig soll es statt dreizehn nur noch vier Fachbereiche geben. Aus dem Fachbereich Medien, Kunst und Industrie kandidiert Frank Werneke als Nachfolger für Frank Bsirske. Daran knüpfen sich natürlich viele Erwartungen an ein stärkeres inhaltliches Herangehen von Themen. Ich denke hier an solche Schwerpunkte wie Arbeitszeitverkürzung und den Kampf gegen den Rechtsruck in der Bundesrepublik. Da erwarte ich, dass meine Gewerkschaft Pflöcke setzt auf dem Bundeskongress.
Martin Körbel-Landwehr: Meine Hoffnung ist, dass wir diesmal auch ausreichend Zeit haben, um die Anträge zu diskutieren und zu entscheiden. Insbesondere zu den Fragestellungen Arbeitszeit, Personalbemessung und zum Thema Klima und Auswirkungen auf die Politik unserer Gewerkschaft.
Jürgen Senge: Wir müssen uns mehr um Themen bemühen, die die Gesellschaft bewegen. Hierzu zählt der Klimawandel und Umweltschutz. Die Belastungen am Arbeitsplatz sind gravierend. Eine Arbeitszeitreduzierung, die Vereinbarung von Familie und Beruf gehört dazu.
UZ: Welche Themen sind wichtig für die Stärkung von ver.di?
Jan Schulze-Husmann: Bei der Arbeitszeitverkürzung muss eine wöchentliche Verkürzung her. Wir brauchen eine offensive gesellschaftspolitische Herangehensweise mit einer bundesweiten Kampagne, wie es in vielen Anträgen deutlich gefordert wird. Hier besteht Nachholbedarf bei ver.di. Da waren wir über Jahrzehnte zu defensiv.
Martin Körbel-Landwehr: In den Betrieben ist es nötig, wieder über Arbeitszeitverkürzung zu reden. Gesellschaftspolitisch brauchen wir dazu eine ver.di-Kampagne. Dabei muss klargemacht werden, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung immer mit einer gleichzeitigen Personalbemessung verknüpft sein muss, da sie ohne einen entsprechenden Personalausgleich wirkungslos ist.
Jürgen Senge: Die durchgeführte Umfrage im Öffentlichen Dienst, welche Arbeitszeitmodelle man sich dort vorstellt, geht gar nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse ein. Die Fragestellungen orientieren auf Lebensarbeitszeitkonten. Was wir brauchen ist aber eine tägliche Entlastung. Wer während seines Berufslebens gesundheitlich am Ende ist, dem hilft eine Lebensarbeitszeitverkürzung erst recht nicht mehr.
UZ: Weitere Schwerpunkte werden sein …?
Jan Schulze-Husmann: Ganz wichtig sind Frieden und Abrüstung. Hier müssen alle Gewerkschaften stärker nach außen wirken. Eine konsequente Aufklärung und Mobilisierung gegen Rechts entwickeln und nicht nachlassen, dies auch immer wieder zu diskutieren und dafür auf die Straße gehen. Hierzu gehört zu analysieren, warum prozentual mehr Gewerkschaftsmitglieder AfD wählen als der Durchschnitt der Menschen.
Martin Körbel-Landwehr: Zu Frieden und Abrüstung gab es auf vergangenen Gewerkschaftstagen von ver.di eindeutige Beschlusslagen. Ich hoffe, dass wir nicht hinter diese Beschlüsse zurückgehen, sondern deutlich machen, dass die Erhöhung der Rüstungsausgaben jedenfalls keine Lösung für uns darstellt. Im Vordergrund muss meiner Meinung nach die Stärkung der Entwicklungspolitik stehen und nicht mehr Ausgaben für Rüstung. Die Rechtsentwicklung sehe ich als einen weiteren Schwerpunkt. Für mich steht aber nicht die formelle Auseinandersetzung mit der AfD im Vordergrund, sondern die inhaltliche in den Betrieben. Es geht darum, die Köpfe der Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Wie gelingt es, mit entsprechenden Diskussionen, die Parolen der AfD und anderer Rechter zu entlarven? Die Menschen müssen sich darauf besinnen, dass nur eine fortschrittliche Politik ihre Situation sowohl in der Gesellschaft als auch im Betrieb verbessert.
Jürgen Senge: Den Rechten keinen Raum gewähren. Sie haben in ver.di nichts zu suchen. ver.di muss in dieser Richtung sich noch mehr an Aktionen beteiligen. Das Thema gehört stärker durch Personal- und Betriebsräte wieder in die Betriebe. Da sitzt ein nicht geringer Teil der Wähler.
UZ: Wie sollte auf die bereits begonnene Digitalisierung reagiert werden?
Jan Schulze-Husmann: Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird eine geschlossene Herangehensweise innerhalb der Gewerkschaften erfordern. Da diese eine zunehmend psychische Belastungen erzeugen wird. Die Arbeitskräfte, die übrigbleiben, also noch gebraucht werden für eine bestimmte Zeit, werden ein Vielfaches an Arbeit leisten müssen und eine zusätzliche Arbeitsverdichtung erleben. Darauf sind die Gewerkschaften in keiner Weise vorbereitet. Deshalb ist auch die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche mit vollem Lohn- und Personalausgleich in großen Schritten so notwendig, sonst wird das Heer der Arbeitslosen immer größer. Die wenigen, die noch Arbeit haben, würden abqualifiziert und gingen regelrecht auf dem Schlauch.
Martin Körbel-Landwehr: Da bin ich mir noch nicht schlüssig, welche Position wir einnehmen sollten. Vom Standpunkt der Beschäftigten aus ist dies differenziert zu sehen. Auf der einen Seite besteht die Gefahr einer permanenten Überwachung und Kontrolle von Menschen in dieser Gesellschaft. Aber es gibt auch in Folge der Digitalisierung Möglichkeiten zur Vereinfachung der Arbeitsprozesse. Wir wissen aber, dass die Arbeitgeber in erster Linie daran interessiert sind, die Digitalisierung zum Arbeitsplatzabbau zu nutzen, nicht zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Aus diesem Grund müssen wir uns auch tarifpolitisch stärker damit beschäftigen.
Jürgen Senge: Digitalisierung ohne große Arbeitszeitverkürzung bringt Massenarbeitslosigkeit und noch mehr Billigjobs. Das ist genau, was die Unternehmer wollen. Sie sind auch für eine individuelle Arbeitszeitverkürzung, weil es für sie am billigsten ist und auch keine Neueinstellungen erfordert.
UZ: Der Kongress wird sich einen großen Teil mit sich selbst beschäftigen. Das lässt viele Satzungsanträge vermuten.
Jan Schulze-Husmann: Aus dem Hut gezaubert wurde wieder die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre. obwohl die vor vier Jahren auf dem Bundeskongress 2015 schon abgelehnt wurde. Auch heute gelten immer noch dieselben Argumente. Wer ernsthaft mehr ehrenamtliche Arbeit fördern will, darf die Gremienarbeit vom Zeitraum her nicht verlängern. Wir haben schon heute große Probleme, ehrenamtliche Funktionen für vier Jahre zu besetzen. Bei fünf Jahren wird die „Verpflichtung“ insbesondere bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen eher hemmend sein. Auch und gerade, was die innergewerkschaftliche Demokratie angeht, muss es deshalb bei vier Jahren bleiben.
Martin Körbel-Landwehr: Aus meiner Erfahrung heraus ist genau diese Innenbetrachtung von ver.di ein Problem. Nachdem wir uns in den vergangenen Jahren schon ständig mit den internen Veränderungsprozessen beschäftigt haben, müssen wir jetzt endlich davon wegkommen. Ich halte es für wenig förderlich, bei jedem Bundeskongress die gleichen Anträge zu stellen. Vor vier Jahren wurde bereits deutlich gemacht, dass man bestimmte Änderungen, wie zum Beispiel die Verlängerung der innergewerkschaftlichen Wahlperioden von vier auf fünf Jahre, nicht will.
Jürgen Senge: Also, dass mit der Verlängerung der Legislatur von vier auf fünf Jahre nervt langsam. Darüber haben wir lang und breit schon 2015 diskutiert. Hier geht es nur darum, Kosten zu sparen. Bei einer Verlängerung verliert man das Forum, dass Kollegen miteinander diskutieren und etwas verändern können. Die wesentlichen Weichenstellungen werden in den Gremien, Vorständen, auf Konferenzen, auch auf diesem Bundeskongress gestellt. Wer die Basis wirklich mitreden lassen will, wer glaubwürdig mehr Wert auf ehrenamtliche Arbeit legt, muss es bei der alten Regelung belassen.
Olaf Harms an die Delegierten des Bundeskongresses
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
fünf spannende Tage stehen vor uns, den Delegierten des ver.di-Bundeskongresses, angereichert mit interessanten Debatten, Redebeiträgen, Antragsdiskussionen mit Beschlussfassungen zu vielen Themen. Ziel ist es, den inhaltlichen Leitfaden der nächsten Jahre zukunftsgerecht abzustecken.
Dazu gehören zentrale Themen des Kongresses: Welche Antworten finden wir auf die Fragen nach den Auswirkungen der „Digitalisierung der Arbeit“? Wie erreichen wir wieder eine stärkere Tarifbindung, um die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen zu verbessern? Welche Vorschläge finden wir, um Menschen
im Alter ein Leben in Würde zu ermöglichen, um angemessenen Wohnraum auch für diejenigen zu finden, die sich eine Eigentumswohnung nicht leisten können, um jungen Menschen eine berufliche Perspektive mit gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren? Geld für die Finanzierung der Antworten auf die aufgeworfenen Fragen ist genug da, es wird und soll nur für Anderes ausgegeben werden. Deshalb ist es richtig, wenn der Bundeskongress sich eindeutig gegen die von der NATO geforderte und von der Bundesregierung schrittweise umgesetzte Erhöhung des Rüstungsetats auf 2 Prozent des BIP bis zum Jahre 2024 ausspricht. Und solange die Bundesrepublik einer der Spitzenreiter im Verkauf und der Lieferung von Waffen und Rüstungsgütern ist, werden wir weiterhin mit Flucht zu tun haben. Hier muss es radikale Änderungen geben. Solange sich diese Politik aber nicht verändert, ist es unsere Pflicht, Geflüchtete aufzunehmen. Wir stellen uns gegen eine Migrations- und Asylpolitik, die Menschen nach ihrer Nützlichkeit für die Wirtschaft beurteilt und ihnen die Gleichberechtigung vorenthält. Wir sagen als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter: Refugees welcome!
Last but not least müssen wir uns auch mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck auseinandersetzen, in dessen Folge eine Partei wie die AfD in Bundes- und Landesparlamente einziehen konnte. Unvereinbarkeitsbeschlüsse helfen hier nicht weiter, stattdessen gilt es, unsere Positionen für ein anderes und besseres Leben hörbar zu machen.
Um unser Leben besser gestalten zu können, ist es aus meiner Sicht notwendig, die bestehenden gesellschaftlichen Grundlagen, den Kapitalismus, in Frage zu stellen. Er ist es, der die Lebensbedingungen der Menschen bestimmt. Seine Prinzipien sind die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die private Aneignung des Mehrwerts und der Zwang zum Profitstreben. Daraus folgen Hungerlöhne, Arbeit bis zum Umfallen, ein menschenunwürdiges Leben in Armut und eine fehlende Perspektive für hunderttausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz – letztlich ohne die Chance auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Wäre es nicht hohe Zeit, endlich wieder einmal über Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken? Das geht jedoch nicht, ohne die Eigentumsfrage zu stellen: die Frage, warum die Unternehmen nicht denjenigen gehören, die für den jeweiligen wirtschaftlichen Erfolg maßgeblich verantwortlich sind, nämlich den arbeitenden Menschen.
Auf diesem Bundeskongress könnte der Startschuss für eine Diskussion, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus gelegt werden. Aus meiner Sicht ist es hohe Zeit dafür.
Uns wünsche ich die Kraft und Klugheit, aber auch die Duldsamkeit, die richtigen Beschlüsse gemeinsam zu fassen.
Mit kollegialen Grüßen
Olaf Harms