Der neue Roman von Paolo Giordano „Den Himmel stürmen“

Utopische Selbstfindung

Von Jürgen Meier

utopische selbstfindung - Utopische Selbstfindung - Paolo Giordano, Rezensionen / Annotationen - Kultur

Paolo Giordano

Den Himmel stürmen

528 Seiten, geb.

Rowohlt-Verlag

22 Euro

Gibt es die Wahrheit? Die Wahrheit über einen Menschen, gibt es die? Der neue Roman „Den Himmel stürmen“ des 1982 in Turin geborenen Autors Paolo Giordano, dessen erstes Buch „Die Einsamkeit der Primzahlen“ 2008 das meistverkaufte Buch Italiens war, kommt zu einem eindeutigen Ergebnis. Doch wie der Autor, ein promovierter Physiker, die Antwort auf die Frage entwickelt, ist nicht nur gut geschrieben, sie überzeugt auch dadurch, dass die Akteure des Romans jugendliche Himmelsstürmer sind, die es heute überall auf der Welt gibt. Sie suchen einen Ausweg aus der Banalität und Zerstörung dieser Welt. Sie ollen keinen Konsumterror. Sie wollen Autonomie.

Floriana und Cesare leben für ihren christlichen Glauben und bemühen sich mit viel Zuwendung, diesen an ihren Sohn Nicola und die Pflegekinder Bern und Tommaso weiterzugeben. Es gelingt ihnen. Die Kinder wachsen ganz im Geiste ihrer Eltern auf. Sie besuchen keine Schule und verlassen auch nie den Hof. Die Harmonie fernab von der Welt gerät ins Wanken, als Teresa, die Ich-Erzählerin des Romans, in Erscheinung tritt. Bern und Teresa werden heimlich ein Paar, das sich in sumpfigen Verstecken des höfischen Geländers sexuell erlebt. Als einer der Söhne entdeckt, dass der fromme Vater Cesare das Liebespaar zur eigenen Befriedigung heimlich belauscht, beginnt die Autorität des Vorbilds langsam zu schwinden. Nicola darf als Einziger zur Schule gehen und bekommt sogar einen Computer, was den Frieden zwischen den Brüdern zerfrisst. Bern fordert Gleichheit. Doch Cesare weist ihn zurecht. „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen …“ Bern rebelliert und entdeckt in einer Bibliothek ein Buch, das sein Leben verändert. „Der Einzige und sein Eigentum“, von Max Stirner gibt ihm eine neue Orientierung. Er löst sich von dem Glauben seines Vaters. „Es gibt keine Wiedergeburt, keine Strafe, kein göttliches Wesen … Es existieren nur wir. Die großen Egoisten“, predigt Bern, dessen Beziehung zu Teresa zerbrochen ist, seinen Brüdern. Er teilt mit ihnen gemeinsam eine Höhle, in der sie ein Mädchen als Kollektiveigentum „benutzen“. Als das Mädchen schwanger wird, versuchen die Brüder, eine Million Lire zu ergaunern, um eine Abtreibung finanzieren zu können. Es gelingt ihnen nicht. Das Mädchen stirbt auf tragische Weise, bei einem Versuch, den Fötus abzutreiben. Die Brüder kehren zum Hof ihres Vaters zurück, der mit seiner Frau in die Stadt gezogen ist. Gemeinsam mit Teresa, die als Tochter einer wohlhabenden Familie aus Turin zurückgekehrt ist, entwickelt sich der Hof zu einer Kommune, die sich selbst versorgen kann. Sie beginnen sich kollektiv nach außen zu wenden. Befreien Pferde, die auf dem Schlachthof auf ihre Schlachtung warten und als sie erfahren, dass ein alter Olivenhain gerodet werden soll, nur weil der Besitzer mit einem Europaabgeordneten dort einen Golfplatz, „mit weichem, in der Sonne glänzendem Rasen“ plant, nimmt der Himmelssturm seinen Niedergang. Sie kämpfen entschlossen gegen die Rodung, dabei findet ein Polizist den Tod. Bern flüchtet und gesteht in seinem Versteck: Er habe nie wirklich damit aufgehört, an Gott zu glauben. „Auch wenn es jetzt etwas anderes ist. Es ist in meinem ganzen Körper, innen und außen.“

Mit Max Stirner glaubte Bern, eine neue Orientierung gefunden zu haben. Der Egoismus, den Stirner predigt, ist scheinbar „etwas anderes“ als Gottesgebot. Er ersetzt die jenseitig orientierte himmlische Utopie durch eine partikulare. Stirners Utopie, mit der sich Bern verwirklichen wollte, weiß „nichts von der ganzen wirklichen Geschichte. Ihre Auffassung ist wirklich religiös, sie unterstellt den religiösen Menschen als den Urmenschen, von dem alle Geschichte ausgeht, und setzt in ihrer Einbildung die religiöse Fantasien-Produktion an die Stelle der wirklichen Produktion der Lebensmittel und des Lebens selbst“. (Marx)

Deshalb beantwortet der Roman die eingangs gestellte Frage, ob es die Wahrheit über einen Menschen gibt, mit einem klaren Nein. Denn die wie auch immer utopisch orientierte Selbstfindung, will zwar den Himmel stürmen, aber nicht das gesellschaftliche Sein und mit ihm, das persönliche Sein verändern. In einer Gesellschaft, in der es möglich ist, dass korrupte Europaabgeordnete aus Gier im Süden Italiens Olivenfelder roden, nur um einen Golfplatz zu bauen, führt die Erkenntnis dieser Wahrheit durchaus zu einer Wahrheit des einzelnen Menschen. Ist er für oder gegen die Rodung?

Der Text ist alles andere als erbaulich und hoffnungsvoll, ja, er ist defätistisch. Aber er zeigt, wohin es führt, wenn Jugendliche nicht mit Dialektik und Materialismus ihren Sturm auf eine unmenschliche Welt beginnen.

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"Utopische Selbstfindung", UZ vom 19. Oktober 2018



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