Knapp ein Jahrzehnt nach den 68er Studentenprotesten verursachte der Tod (am 4.8.1977) des in Tübingen lebenden 92-jährigen Philosophen Ernst Bloch einen Aufstand der Tübinger Studentenschaft. Der Streit um die Umbenennung der Tübinger Universität, der Streit zwischen den Kollegen über die Würdigung des Verstorbenen, die konträren Medienberichte über den, der im Nachkriegsdeutschland lieber in Leipzig als im Westen lehren wollte und der aus der DDR desertierte, ohne ein Dissident zu werden, machte deutlich, welches gegensätzliche Verhältnis die offizielle Universität und große Teile der Studentenschaft zum Wirken von Ernst Bloch hatten.
Die Studentenvertretung der Universität in Tübingen forderte gleich nach Blochs Tod, die Universität nach dem Verstorbenen zu benennen. Der alte Name „Eberhard-Karls-Universität“ symbolisiere die Gründung der Universität im Feudalismus. Diese Forderung stieß in der Universitätshierarchie auf offene Ablehnung.
Seine Beerdigung wurde zu seinem letzten Politikum
Die zur Demonstration werdende Beerdigung am 9. August in Tübingen hatte eine lange Rednerliste. Freunde und Feinde traten auf. Da die Mehrheit der Professoren es ablehnte, in ihrem Namen eine Rede halten zu lassen, redete Professor Dr. Helmut Fahrenbach für eine Minderheit: „Ich spreche im Namen aller derer am Fachbereich Philosophie, für die Blochs Denken und Wirken in Tübingen von unwiederbringlicher und zugleich unverlierbarer Bedeutung ist.“ Aufgrund des öffentlichen Drucks musste auch der Universitätspräsident Adolf Theis reden. Für ihn war Bloch höflicherweise ein „engagierter Hochschullehrer“, den die Universität in „ehrendem Angedenken bewahren“ soll. Aber die Studenten wollten mehr.
Am Abend zogen über 3 000 Studenten und Freunde Blochs in einem Fackelzug durch Tübingen. Für die linken Studenten lebte Bloch weiter „in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit den Erscheinungen kapitalistischer Wirklichkeit“. Der Demonstrationszug zog auch an der in einer Nachtaktion umbenannten „Ernst-Bloch-Universität“ vorbei. In heller Empörung über diese „Schändung“ sprach die Uni-Leitung von „Schmierern und deren ganzer Brut“. Die vielen, die ihre Trauer offiziell bekundeten, lobten die rührige Tätigkeit Blochs, aber hofften, dass mit der Beerdigung Blochs auch seine Theorien und Zukunftsvorstellungen beerdigt werden würden.
Die Studenten dagegen hofften weiter auf die Ideen von Bloch: „(…). Der Tod kam erwartet, die Kampagne um ihn konnte beginnen. Aber gerade wir Studenten waren zunächst betrübt und überrascht zugleich, bis wir uns zu der Formel durchringen konnten, dass Ernst Bloch weiterlebt. Zwei Tage später war die Eberhard-Karls-Universität umbenannt worden, (…) Im Sprachstil der Herrschenden Sachbeschädigung und doch der Ausdruck eines massenhaften Wunsches nach einer noch unbegriffenen Hoffnung wirklicher Veränderung. (…). Freiherr Bruno von Freytag, gen. Löringhoff, Dekan der Philosophen, politisch eher im Royalismus anzusiedeln als in dieser Welt, meinte, vor den ‚Schmierern’ ausspucken zu müssen. (…) Die Trauereden machen klar, worum es ging. (…). Sie haben den Namen Ernst Bloch von dieser Universität wieder verbannt, genauso wie er aus den Zeitungen verschwinden wird, wie sein Leichnam in das Grab versenkt wurde. Wir sollten wieder vergessen, was uns an diesem Tag auf die Straße trieb, was wir für unsere Zukunft beschlossen haben, was uns in diesen wenigen Tagen öffentlicher Aufmerksamkeit zu Kopfe stieg. Diese konkrete Utopie einer anderen Wissenschaft, eines alternativen Lebens, unsere Geschlossenheit und Einheit, dieses Prinzip Hoffnung auf Veränderung, diese Fähigkeit, sich kollektiv auf eine Sache zu konzentrieren, die unsere Bedürfnisse gebündelt hat, darf nicht vorbei sein.“
Bloch starb im „deutschen Herbst“
Blochs Beerdigung wurde auch deshalb ein Politikum, weil auf ihr die aktuellen politischen Ziele und das politische Klima, zu denen und dem er sich ja auch persönlich und in aller Öffentlichkeit positioniert hatte, zur Sprache kamen: Berufsverbote, Terroristenhetze und Repression, Vorwurf an die linken Intellektuellen, sie seien die „intellektuellen Wegbereiter des Terrorismus“. Widerstand der Anti-Atomkraft-Bewegung und Bauplatzbesetzung in Brokdorf, das „Modell Deutschland“ verliert an Tempo. Über eine Million Menschen waren erwerbslos.
Im Jahr zuvor hatte die CDU mit ihrem Wahlkampfspruch „Freiheit statt Sozialismus“ die Bundestagswahl gewonnen. Unter den bundesdeutschen Studenten machte sich Existenzangst und moralische Entrüstung breit, sie sahen eine düstere Zukunftsperspektive. Aber auch Widerstand, konkret der Kampf gegen Berufsverbote und politische Disziplinierung, gegen verschärfte Studienbedingungen durch das Hochschulrahmengesetz, gegen die Einführung einer Regelstudienzeit und für die Erhöhung der BAföG-Beträge. Die DKP in Tübingen war aktiver Teil des Widerstandes in der Stadt. Auch Tübinger DKP-Mitglieder waren von den Berufsverboten betroffen. Unter dem Titel „Berufsverbote, Hexenprozesse des 20. Jahrhunderts“ schrieb Ernst Bloch „Eines ist den Betroffenen allen gemeinsam: sie sind antifaschistisch, demokratisch und sozialistisch eingestellt … Solcherart politisches Engagement war den herrschenden Kräften schon immer suspekt.“ Mancher Student mochte von der Mystik der zwei zentralen philosophischen Begriffe „Hoffnung“ und „Utopie“ von Bloch angetan sein. Stärker war seine Verbundenheit durch seine Solidarität mit den politischen Kämpfen der Studenten. Nach Hans Heinz Holz blieb Bloch „bis zu seinem Tode mit unerschütterlichem Herzen dem Kommunismus verbunden – auch dann, als theoretische Auseinandersetzungen in schwieriger politischer Situation ihn 1956 in Konflikt mit Partei und Staat der DDR brachte“.
Antwort an die falschen Freunde
Seine Gastprofessur in Tübingen bekam er in einer Zeit, in der von jeder prominenten Person, die aus der DDR 1961 „rüberkam“, erwartet wurde „Zeitzeuge der DDR-Diktatur“ zu sein. Dem hat Bloch sich bis zu seinem Tod verweigert. Doch die Herrschenden waren und sind sehr nachtragend. Deshalb war die Verteidigung Blochs gegen die, die auch die Philosophie und politische Praxis Blochs mit beerdigen wollten, wesentlich. „Aber die selben, die über Berufsverbote, Gesetzesänderungen, durch strukturelle und offene Gewalt der Möglichkeit einer radikalen Veränderung des Gesellschaftssystems Einhalt zu gebieten suchen, feiern ihn als den größten Philosophen der Gegenwart. Ihre Nachrufe füllen die Zeitungen, ihre Beileidstelegramme stapeln sich, ihre Heuchelei kennt keine Grenzen. Der tote Ernst Bloch wird zum scheinbaren Vehikel ihrer Liberalität und zum zynischen Aushängeschild einer humanitären Gesinnung, die bestenfalls in ihrer ideologischen Verkleisterung das Modell Deutschland aufpolieren soll. Prominente von CDU über SPD und FDP lassen es sich nicht nehmen, in aller Öffentlichkeit Ernst Bloch zu betrauern, ihrem Klassengegner wird eine Ehre zuteil, wenngleich es sich ihre Medien nicht nehmen lassen, seine Inhalte zu pervertieren, um sie für ihre eigene politische Propaganda zu benutzen“, schrieben die Studenten.
Ein politischer Philosoph mit einer politischen Praxis
Oskar Negt (Sozialistisches Büro), sprach auf der Beerdigung: „Wer den Toten Ernst Bloch ehrt, muss wissen, wofür der lebende mit seiner Person und seinem Werk einstand, wofür dieser militanteste der modernen Philosophen gekämpft hat. Der aufrechte Gang, dieses sichtbarste Zeichen menschlicher Würde, ist das A und O der Philosophie Blochs. Er ist die Substanz seiner durch und durch politischen Philosophie.“
Werke u.a.:
Geist der Zeit, 1918; Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, 1921; Erbschaft dieser Zeit, 1935; Freiheit und Ordnung, 1946; Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, 1951; Avicenna und die Aristotelische Linke, 1952; Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere, 1953; Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, 1954, Bd. II, 1955, Bd. I1I, 1959; Wissen und Hoffnung. Auszüge aus seinen Werken, 1955; Tübinger Einleitung in die Philosophie, 1963; Atheismus im Christentum, 1968, Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik, Suhrkamp-Verlag, 1968; Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 1972, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, 1975
Biographisches
Geboren am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen am Rhein, gestorben am 4. August 1977 in Tübingen. 1933 bis 1948 im Exil. 1948 nimmt er das Angebot an, den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität in Leipzig zu übernehmen. Er wird als Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften berufen. In der DDR veröffentlicht er u. a. 1954–59 „Das Prinzip Hoffnung“. 1957, mit über 70 Jahren, Zwangsemeritierung durch die Leipziger Universität. 1961 Umsiedlung in die Bundesrepublik. Ihm wird eine Gastprofessur an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen angeboten. Er nimmt das Angebot an, distanziert sich aber trotz öffentlicher Aufforderungen nicht von seiner Zeit in der DDR. Zum Leidwesen der Universitätsverwaltung begleitet er die bundesdeutschen sozialen, demokratischen und gewerkschaftlichen Widerstandsbewegungen der 60er und 70er Jahre nicht nur wohlwollend, sondern auch aktiv. In Tübingen veröffentlicht er u. a. 1963–64 seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ und als Abschluss 1975 „Experimentum mundi“.
Stimmen zu Ernst Bloch
Hans Heinz Holz
„Die Bedeutung von Blochs Werk liegt in der organisierenden Zentrierung der gesamten Geistesgeschichte der Menschheit um die Antizipation einer von natürlicher Not und menschlicher Unterdrückung befreiten Welt, deren Verfassung er mit dem Marx-Wort vom „Humanismus der Natur und Naturalismus des Menschen’ umschreibt und in der Herstellung des Kommunismus erstrebt. Bloch liefert ein weltanschauliches Modell für jene Teile des Bürgertums, die bereit sind, die frühbürgerlichen Aufklärungspostulate und das Programm von ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ auch um den Preis der Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft und der ökonomischen Bedingungen des Widerspruchs von Bourgeoisie und Proletariat zu verwirklichen. Die weltanschauliche Kraft der Blochschen Philosophie liegt in der Vereinigung einer progressiv-utopischen Perspektive mit der Aneignung des gesamten kulturellen Erbes, ihre Schwäche besteht in der idealistischen Vernachlässigung der materiellen, politisch-ökonomischen Vermittlungsschritte auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft, im Mangel an konkret-historischen Analysen (besonders auch der Gegenwart) und einer daraus entspringenden chiliastischen Erwartungshaltung, die auch in aktuellen politischen Einschätzungen sichtbar wird. Sie ist die Widerspiegelung einer Übergangssituation oder ‚Zwischenwelt’ (wie Bloch selbst solche Epochen charakterisiert) und das theoretische Medium, in dem sich weltanschauliche Übergänge abspielen.“
(Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, Hrsg. Manfred Buhr, Leipzig 1988)
Manfred Buhr
„Ernst Bloch war – dies kann nicht angezweifelt werden – ein bedeutender Denker des 20. Jahrhunderts. Mit seinem philosophischen Werk hat er eine Weltanschauungs- und Kulturnorm entwickelt, die zur Kenntnis zu nehmen und kritisch-produktiv anzugehen ist. Wir wären schlecht beraten, dies nicht zu tun, solches nicht zu versuchen. Mit anderen Worten: Wir wären schlecht beraten, das Werk von Bloch nicht marxistisch-leninistisch zu befragen. Das deshalb, weil es innovative Züge trägt.“ Buhr nennt dann Stichwörter wie Humanismus, Optimismus, Übergang, Zukunft, Gedankenreichtum, Querlage zum Hauptstrom bürgerlicher Gegenwartsphilosophie.
„Der Ort: Blochs Denken verbleibt im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft; die Weise: Blochs Denken ist ein Denken des Übergangs. Das von Bloch immer wieder bemühte Überschreiten des Denkens ist von hier aus gesehen eher ein Überspringen, insofern nämlich, als er den realen Geschichtsprozess der Epoche, vor allem das historische Subjekt dieses Geschichtsprozesses und seine Kämpfe, Klassenkämpfe, mit seinen Höhen und seinen Niederungen, mit seinen Siegen und seinen Niederlagen, mit seinen Diskontinuitäten und seinen Kontinuitäten, nicht konkret ausmacht – und eben dadurch überspringt. Den Geschichtsprozess der Epoche und sein historisches Subjekt ersetzt Bloch (und das eben ist sein Überspringen) durch ein Endziel, das er nicht in der gesellschaftlichen Bewegung festmacht, sondern primär in der Welt (…).“
(Manfred Buhr, Eingriffe, Stellungnahmen, Äußerungen. Zur Geschichte und gesellschaftlichen Funktion von Philosophie und Wissenschaft, Berlin 1987. Prof. Manfred Buhr, Philosophiehistoriker, war u. a. langjähriger Direktor des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR)