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Vor einem halben Jahrtausend entstand eine Schrift, die eine ganze Literaturgattung prägte. Thomas Mores ‚wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia‘ stand an historischer Wirkungsmächtigkeit den Marxschen Werken kaum nach, inspirierte Träumer, Projektemacher, Künstler, Philosophen und die Revolutionäre vieler Jahrhunderte.
Alles Geschichte, so könnte man meinen. Mit dem Aufkommen des Marxismus trat etwas Neues an die Stelle des kühnen Erdenkens alternativer Gesellschaftsentwürfe; Marx und Engels formulierten ihre Theorie in deutlicher und oft scharfer Abgrenzung zu utopistischen Strömungen innerhalb der jungen Arbeiterbewegung. Im Anti-Dühring scheint Friedrich Engels das letzte Wort über utopische Konstruktionen gesprochen zu haben: „Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage entsprachen unreife Theorien. …“ (MEW 20/241)
Haben sich Utopien also historisch erledigt? Ist utopisches Denken mit der Herausbildung des Marxismus – und mehr noch mit den vielschichtigen Erfahrungen des Aufbaus wirklicher sozialistischer Gesellschaften – endgültig zum Rudiment, schlimmer noch, zum reaktionären Rückfall hinter einen bereits erreichten Stand der Wissenschaft geworden? Oder existiert hier ein Erbe, das es zu bewahren und zu verteidigen gilt? Engels beantwortet diese Frage bemerkenswert differenziert. Sein ‚Anti-Dühring‘ beinhaltet neben pointiert utopiekritischen Passagen eine umfassende und warmherzige Würdigung von utopischen Denkern wie Henry de Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Owen, stellt deren „geniale Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen“ heraus. Engels folgend erklärte Lenin die Werke der utopischen Sozialisten zur geistesgeschichtlichen Quelle des Marxismus.
Die Autoren dieses Heftes sind in der Bewertung utopischen Denkens uneins. Von Thomas Metschers Forderung „das Utopische als Moment des Wissenschaftlichen im Marxismus zu begreifen“ bis hin zu Claudius Vellays entschiedenem Einspruch gegen eine Wiederbelebung utopischer Elemente innerhalb des Marxismus spannt sich der Bogen widerstreitender Auffassungen. Den Auftakt unseres Schwerpunktes bildet eine theoriegeschichtliche Würdigung der größten aller Utopien; Holger Wendt beschäftigt sich mit den wenig gewürdigten ökonomischen Pionierleistungen der ‚Utopia‘. Martin Küpper setzt sich mit dem in Sachen Utopie profiliertesten marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts auseinander, sein Beitrag liefert einen pointierten Zugang zum Werk Ernst Blochs. Die beiden einander ebenso nachdrücklich wie produktiv widersprechenden Aufsätze von Thomas Metscher „Von der Notwendigkeit der Utopie in finsteren Zeiten“ und Claudius Vellay „Nochmals dazu, warum der Marxismus keine Utopien verkündet“ zeigen alternative Wege auf, sich der Problematik utopischen Denkens auf einer grundsätzlichen Ebene zu nähern.
Den Abschluss unseres Schwerpunktes bilden Beiträge, die sich mit aktuellen Aspekten des Themas befassen. Helgaund Herbert Hörz setzen sich mit den Zukunftsvisionen der Transhumanisten auseinander; Nina Hager erörtert die gesellschaftliche Dimension aktueller Tendenzen in der Science Fiction Literatur. Zwei Rezensionen gehören zweifelsfrei zum Schwerpunkt: 1. Hermann Klenners kompetente Besprechung der zweibändigen politischen Biografie, die Waltraud Seidel-Höppner über Wilhelm Weitling (1808–1871), den „Begründer des deutschen Kommunismus“ (Engels über Weitling) geschrieben hat. Und 2. die Besprechung des neuen Büchleins aus der Reihe Theorie.org: „Utopie. Vom Roman zur Denkfigur“.
Unter „Aktuelles“ befassen sich die Marxistischen Blätter konkret mit Fragen der „finsteren Gegenwart“: mit den neuen „Heimatvertriebenen“ (Lothar Geisler), mit dem Krankenhausstrukturgesetz (Thomas Böhm), mit Dieselgate bei Volkswagen (Klaus Wagener), mit Griechenland (Thomas Gebauer, Franz-Stephan Parteder), mit der Forderung nach Verbot der Prostitution (Heide Janicki) und zwei zarten Silberstreifen am Horizont: dem ver.di-Bundeskongress (Norbert Heckl) und der Wahl von Jeremy Corbin zum neuen Labour-Parteivorsitzenden (Ferdinand Ostrowsky). In „Positionen“ befassen sich Hans-Peter Brenner mit „Genosse Papst“ Franziskus und der katholischen Soziallehre, Ekkehard Lieberammit Errungenschaften und Defiziten der DDR und Richard Sorg mit „Marxismus“ und „Marxist/in sein“, wie W. F. Haug es sieht. Eingeleitet wird das Heft mit drei Beiträgen „In gemeinsamer Sache“ in denen es aus unterschiedlichen Anlässen auch „Gegen das Vergessen unserer Traditionslinie“ geht.