Gegen Ende November verlängerte US-Präsident Joseph Biden um ein Jahr den „Notstand der USA wegen der Situation in Nicaragua“, die „weiterhin eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der Vereinigten Staaten darstellt“. Erklärt worden war der „Notstand“ zuerst von Trump im Jahr 2018, weil in Nicaragua angeblich wegen der Abwehr des damaligen Putschversuchs und „Repression“ ein Bürgerkrieg mit Massenflucht in die USA beginnen würde.
Dazu kam es nicht; allerdings stieg die Zahl der Immigranten deutlich, als das Programm „Parole“ der USA für Venezolaner auf Nicaragua, Kuba und Haití ausgeweitet wurde. Es erlaubt für zwei Jahre den Arbeitsaufenthalt in den USA aus „humanitären“ Gründen ohne Asylanrecht. Es ist ein hinterhältiges Programm, mit dem Menschen aus den durch US-Sanktionen in der Entwicklung behinderten Ländern gelockt werden, so dass die Abwanderung der Arbeitskräfte die Heimatländer schädigt.
Warum gerade jetzt die Neuauflage der Lüge, die angebliche „Repression“ in Nicaragua bedrohe die USA? Man darf annehmen, der Anlass ist eine teilweise Verfassungsreform, die auf Initiative des Präsidenten Daniel Ortega kurz vor der erneuten „Notstandserklärung“ der USA dem Parlament vorgelegt und in erster von zwei notwendigen Lesungen angenommen wurde.
Die Reform „in verständlicher und revolutionärer Sprache“ hat laut präsidialer Begründung die Absicht, die Unabhängigkeit, Souveränität, Selbstbestimmung, Sicherheit und den Frieden als unverzichtbare Rechte des Volks zu stärken. Die direkte Teilnahme aller am geeinten Kampf gegen die Armut als Aufgabe des Staates ist der Leitgedanke der Reform. Mit ihr werden die Rechte der ursprünglichen Völker und Afronicaraguaner als Teil der Nation hervorgehoben. Das Verfassungsrecht auf kostenlose Schul- und Universitätsbildung in allen technischen und wissenschaftlichen Bereichen und auf allen Ebenen wird erweitert. Ebenso wird das Recht auf ein kostenloses, qualitativ hohes Gesundheitswesen im Modell der familiären und gemeinschaftlichen medizinischen Versorgung mit aktiver Teilnahme der Bevölkerung festgeschrieben.
Entsprechend dieser Vorgaben werden in den reformierten Artikeln die sozialen und ökonomischen Rechte der Nicaraguaner besonders detailliert ausgeführt. All das ist wohl unerträglich für die kapitalistische Kultur in den USA, in denen Milliardäre über das gemeine Volk herrschen und weitreichende Verarmung als privates Problem von „Verlierern“ gilt. Skandalös muss es in Washington wirken, wenn dem Präsidenten die direkte Verantwortung für den Kampf gegen die Armut mittels der Umsetzung des Fünfjahresplans für die menschliche Entwicklung aufgetragen wird, wie es die Reform vorsieht. Um ihn dazu zu befähigen, wird festgelegt: „Artikel 120: Die Präsidentschaft der Republik leitet die Regierung und koordiniert als Staatsoberhaupt die Legislative, Judikative, Wahl-, Kontroll- und Aufsichtsorgane sowie die regionalen und kommunalen Körperschaften im Einklang mit den höchsten Interessen des nicaraguanischen Volkes und den Bestimmungen dieser politischen Verfassung.“ Die Präsidentschaft besteht aus Mann und Frau als zwei gleichberechtigten „Co-Presidentes“. Die Amtszeit aller in allgemeinen Wahlen besetzten Funktionsträger sowie des Wahlrats und der Finanzaufsicht wird auf sechs Jahre erhöht.
Francisco Bautista Lara, Publizist und politischer Kommentator in Managua, fasste zusammen: „Das Ziel der Armutsüberwindung erfordert wirksame Institutionen, um im konkreten Kontext von Risiken, Bedrohungen sowie der Destabilisierung durch interne und externe Aggressionen verfolgt werden zu können.“ Die Reform sieht keine besonderen Eingriffe der Präsidentschaft in die Staatsgewalten vor, die sich bisher schon „harmonisch koordinieren“ sollten. Das Parlament kann unverändert ein Veto des Präsidenten mit Mehrheit überstimmen, es kann die Immunität der Ko-Präsidenten mit Zweidrittelmehrheit aufheben, die Magistrate und Richter sind weiter unabhängig und der Verfassung verpflichtet. Aber es hat in verschiedenen Publikationen eine hysterische Reaktion auf die Reform seitens der Putschisten von 2018 und ihrer Komplizen gegeben. Sie sehen sich besonders von den Reformartikeln gegen Hochverräter getroffen und spielten die Begleitmusik zur „Notstandserklärung“ der USA.