Selbsthilfeorganisationen fordern Kurswechsel, Bundesregierung setzt auf Repression

Unterlassene Hilfeleistung für Drogengebraucher

Von Markus Bernhardt

In über 60 deutschen Städten ist es am 21. Juli zu Mahnwachen und Gedenkaktionen von Drogenselbsthilfeorganisationen, Elterninitiativen und lokalen Aids-Hilfen gekommen. Diese fanden anlässlich des „Gedenktages für verstorbene Drogengebraucher“ statt, der auf den Tod des jungen Drogenabhängigen Ingo Marten zurückgeht, der am 21. Juli 1994 in Gladbeck verstorben war. Seiner Mutter gelang es infolge dessen unter Mithilfe der Stadt eine Gedenkstätte für ihren Sohn und andere verstorbene Drogenabhängige zu installieren, der weitere Orte der Erinnerung und Mahnung in anderen Städten folgten.

Die Situation von Drogennutzern stellt sich zunehmend dramatisch dar. Insgesamt mehr als 37 000 Menschen sind in der Bundesrepublik seit 1990 durch den Konsum illegalisierter Drogen gestorben. Alleine im vergangenen Jahr wurden 1 226 „drogenbedingte Todesfälle“ erfasst, wie das Bundeskriminalamt bekanntgab. Die Zahl der Drogentoten stieg somit 2015 um fast 20 Prozent an. Viele dieser Todesfälle wären vermeidbar gewesen, hätten sich die politischen Entscheidungsträger dazu durchgerungen, die Kriminalisierung der Drogengebraucher zu beenden und bedarfsgerechte Hilfsangebote zu schaffen, um so den Kreislauf von Ausgrenzung, Beschaffungskriminalität und Verelendung zu durchbrechen. Während Selbsthilfeorganisationen und Experten sich beispielsweise für Maßnahmen wie die flächendeckende Einrichtung von Drogenkonsumräumen, die kostenlose Spritzenvergabe in Haft und eine Entkriminalisierung des Drogengebrauchs stark machen, will die Bundesregierung von all dem nichts wissen. Sie setzt weiterhin auf Repression und Kriminalisierung. Dabei wiesen jüngst selbst Experten wie Hubert Wimber, immerhin ehemaliger Polizeipräsident von Münster und zugleich Vorsitzender von LEAP Deutschland („Law Enforcement against Prohibition“) darauf hin, dass „nicht Kriminelle, sondern ganz überwiegend Konsumenten“ zu Beschuldigten gemacht würden. Dies, obwohl „sie niemandem schaden – außer in manchen Fällen sich selbst, was nach unserer Rechtsordnung nicht strafbar ist“. Die Strafbarkeit des Drogenkonsums sei daher „ein durch nichts gerechtfertigter Eingriff in die Persönlichkeitsrechte“, konstatierte Wimber weiter.

Unterdessen wies der Verein für innovative Drogenselbsthilfe, VISION e. V., aus Köln, in einer Stellungnahme anlässlich des heute stattfindenden „Internationalen Gedenktages für verstorbene Drogengebraucher“ darauf hin, dass ein „großer Teil der Todesfälle“ keine „Todesfälle durch Drogeneinwirkung, sondern Folge der Verbotspolitik und der allgegenwärtigen gesellschaftlichen Ignoranz und Stigmatisierung“ seien. Sie seien „Folge eines unregulierten, unkontrollierten Schwarzmarktes, in dem gestreckte Drogen zur Normalität gehören“.

Verschiedene Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH), der der Verband der „Junkies, Ehemaligen und Substituierten“ (JES) und der „akzept“-Bundesverband hatten im Juni einen „Alternativen Drogenbericht“ vorgestellt und einen „Stillstand in der deutschen Drogenpolitik“ ausgemacht. „Beim Konsum der Volksdrogen Tabak und Alkohol ist Deutschland Weltspitze, bei den illegalisierten Drogen führen Strafverfolgung Konsumierender und ein Mangel an Hilfsangeboten zu immer mehr Drogentoten und drastischen Problemen für Konsumierende und die Gesellschaft“, lautete das einhellige Fazit.

„Die Strafverfolgung heroinabhängiger Menschen ist aberwitzig. In Haft besteht ein dramatisch höheres HIV- und Hepatitisrisiko“, monierte kürzlich Ulf Hentschke-Kristal, Vorstandsmitglied der DAH. Mit einfachen Maßnahmen ohne Risiken und Nebenwirkungen könnten stattdessen zahlreiche Menschen gerettet werden. „Darauf zu verzichten, kann man nur als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen“, so Hentschke-Kristal. Die schlechte Qualität der Substanzen und die Marginalisierung der Betroffenen führe außerdem zu gesundheitlichen Risiken wie etwa einer Überdosierung und erschwere die medizinische Versorgung der Konsumenten. Die Betroffenen würden außerdem „in kriminelle Karrieren, Verelendung und Beschaffungskriminalität getrieben“.

Dr. Bernd Werse vom Centre for Drug Research der Goethe-Universität Frankfurt forderte eine „staatliche regulierte Abgabe von Cannabis“. Diese könne dem „Verbraucher- und Jugendschutz sehr viel besser gerecht werden als ein krimineller Markt außer Kontrolle“. Milliarden Euro Steuergelder würden jährlich sinnlos für Strafverfolgung verbrannt. „Dieses Geld könnte wesentlich sinnvoller für Prävention und Drogenhilfe eingesetzt werden“, so Werse weiter.

Selbst André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, bezeichnete das Strafrecht bei Drogenkonsum als „nicht das geeignete Instrument“. „Es bedarf einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den zahlreichen offenen Fragen und einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Ein ‚Weiter wie bisher‘ ist ganz sicher nicht der zielführende Weg“, so der Polizeibeamte. Für den Juristen und Kriminalogen Prof. Dr. Lorenz Böllinger verstößt das gar „gegen die Grundrechtsprinzipien der Freiheit, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit“. Die Weiterentwicklung der Strafrechtstheorie, der Kriminologie und der anderen Humanwissenschaften erforderten einen Paradigmenwechsel. Nötig seien „eine umfassende Entkriminalisierung des Drogenumgangs, drogenspezifische Regulierung und gesundheitsrechtliche Bewältigung der Drogenrisiken“.

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"Unterlassene Hilfeleistung für Drogengebraucher", UZ vom 29. Juli 2016



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