UZ: In NRW verfügen gerade noch knapp über zehn Prozent der Städte und Gemeinden über einen ausgeglichenen Haushalt. Ist diese Situation typisch für die gesamte Bundesrepublik?
Wilhelm Koppelmann: Sicherlich gibt es Unterschiede. Es gibt durchaus noch „wohlhabende Städte“, die noch in der Lage sind, die öffentliche Daseinsvorsorge problemlos zu organisieren. Nur sind das zunehmend die Ausnahmen. Osnabrück hat z. B. alleine 180 Millionen Euro Kassenkredite. Diese sollen eigentlich nur Liquiditätsengpässe der Kommunen überbrücken, in Wirklichkeit werden sie aber seit Jahren zur Finanzierung laufender Ausgaben fest eingeplant.
UZ: Was sind die Ursachen für die Situation? Etwa horrende Gehaltszahlungen an die Beschäftigten im öffentlichen Dienst?
Wilhelm Koppelmann: Die Anzahl der Beschäftigten im unmittelbaren öffentlichen Dienst der Kommunen ist von knapp zwei Millionen 1991 auf gut 1,2 Millionen gesunken, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat sich dabei sogar von 1,6 Millionen auf 760 000 halbiert – ein stärkerer Beschäftigungsabbau als im gesamten öffentlichen Dienst. Das kann es also nicht sein.
Ein Grund für die Finanznot ist eine strukturelle Unterfinanzierung. Vor allem ab 2001 ist ein Rückgang der Einnahmen zu verzeichnen, der maßgeblich durch die damalige Senkung von Einkommens- und Körperschaftsteuer verursacht ist. Die Steuersenkungen, von denen vor allem Bezieher von hohen Einkommen sowie finanzstarke Unternehmen profitierten, hatten für die Kommunen Einnahmeausfälle von bis zu drei Milliarden Euro pro Jahr zur Folge. Mit den weiteren Steuersenkungen summieren sich die Einnahmeausfälle auf über acht Milliarden Euro pro Jahr. Ausfälle durch die seit 1998 nicht mehr erhobene Vermögensteuer, die als Ländersteuer über den kommunalen Finanzausgleich wesentlich den Kommunen zu Gute kam, sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Zu dieser Unterfinanzierung kommt dazu, dass die Kommunen Aufgaben übertragen bekommen, ohne dass ihnen die nötigen Finanzmittel hierfür zur Verfügung gestellt werden. Der sinnvolle Kita-Ausbau samt der Einstellung von ErzieherInnen ist ein Beispiel, die steigenden Sozialausgaben der Kommunen trotz sinkender Arbeitslosigkeit ein weiteres.
UZ: Was kennzeichnet die Situation der Beschäftigten im öffentlichen System gegenüber den KollegInnen in der Privatwirtschaft?
Wilhelm Koppelmann: Im öffentlichen Dienst, wie in der Privatwirtschaft, müssen die Beschäftigten ihre Arbeitskraft verkaufen. Befristete Arbeitsverhältnisse sind im öffentlichen Dienst inzwischen für viele Einrichtungen fast Normalität. Selbst prekäre Arbeitsverhältnisse wie z. B. Werkverträge kommen inzwischen vor und dass kommunale Arbeitgeber ihren Verband verlassen und Tarifflucht begehen, ist auch keine Seltenheit mehr. Der größte Unterschied besteht vielleicht darin, dass Streiks immer politisch geführt werden müssen, weil oftmals die Fähigkeit, dem Arbeitgeber wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, fehlt. Dafür ist die Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst ein gutes Beispiel.
UZ: Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg und die Präsidentin des Städtetages Eva Lohse haben mit Blick auf die Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst „Zugeständnisse“ an die Erzieherinnen und Sozialarbeiter „schon wegen der großen Flüchtlingsbelastung“ abgelehnt. Wie bewertest du diese Äußerungen?
Wilhelm Koppelmann: Naja, sie sind halt schäbig. Ihre Aufgabe wäre ja eigentlich, sich dafür einzusetzen, dass die Kommunen ausreichend Finanzmittel für diese Aufgaben zur Verfügung gestellt bekommen. Stattdessen sollen die, die im Wesentlichen die menschenwürdige Versorgung der Flüchtlinge organisieren müssen, wie z. B. die SozialarbeiterInnen, aber in Folge auch die ErzieherInnen, auf eine gerechte Bewertung ihrer Tätigkeiten verzichten.
Ich finde es übrigens bezeichnend, dass die Bundesgesetze ja in Berlin von den gleichen Parteien verabschiedet werden, die in den Kommunen auf den Rücken der Beschäftigten und der BürgerInnen den Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge wegen fehlender Finanzen organisieren.
UZ: Kann man davon reden, dass die Finanznot der Kommunen die Tarifautonomie bedroht?
Wilhelm Koppelmann: Die Tarifauseinandersetzungen werden sicherlich schwieriger, wie ich ja schon am Beispiel der Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst geschildert habe. Was aber auf jeden Fall bedroht ist, ist die kommunale Selbstverwaltung. Die Kommunen sind ja noch nicht einmal in der Lage, die ganz normale Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Der von dir ja in einem anderen Zusammenhang zitierte Herr Landsberg wies kürzlich auf den Investitionsbedarf bei der kommunalen Infrastruktur hin. Hier fehlten 118 Milliarden Euro, erklärte er: „Die kommunale Infrastruktur ist in einem bedenklichen, in einigen Teilbereichen dramatischen Zustand. Es ist ja kein Zufall, dass teilweise BRD mit ‚Bröckel-Republik-Deutschland‘ übersetzt wird.“
UZ: Welche Vorstellungen hat ver.di, um die Liquidität der Kommunen wieder herzustellen?
Wilhelm Koppelmann: Nötig wäre sicherlich ein Schuldenschnitt für die Kommunen. Ein Antrag des Gewerkschaftsrates fordert, dass Altschulden in einem Fonds zusammengefasst werden, der zu Bundeskonditionen verwaltet wird.
Und: Wer bestellt, bezahlt! – Die Sozialausgaben, die in Bundesgesetzen geregelt sind, sind grundsätzlich durch den Bund zu übernehmen. Dabei müssen die Länder dafür sorgen, dass die Mittel entsprechend des Bedarfs bei den Kommunen ankommen. In einem weiteren Antrag aus Baden-Württemberg wird die Aufhebung der Schuldenbremse für Bund und Länder gefordert. Diese wird nämlich ab 2020 die Finanzsituation der Kommunen noch weiter verschärfen. Weitere Punkte sind natürlich eine höhere Besteuerung großer Einkommen und die wirksame Einführung und Entwicklung der Vermögens- und Erbschaftssteuer.
UZ: Was versprichst du dir von dem aktuellen Bundeskongress? Welche Initiativen seitens ver.di wünschst du dir?
Wilhelm Koppelmann: Eine weitere Schärfung des Profils von ver.di als gesellschaftliche Gegenmacht, einer Gewerkschaft, die sich betrieblich entwickelt und die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen dabei nicht vernachlässigt. Und ich wünsche mir, dass ver.di initiativ wird, dass innerhalb des DGB die Friedensfrage wieder eine zentrale Aufgabe wird.