Zum EU-Imperialismus in Afrika

Unterentwicklungspolitik

Seit dem Beginn der Kolonialisierung Afrikas im 15. Jahrhundert betrachten die imperialistischen Mächte Europas Afrika als ihren Hinterhof. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Trotz verstärkten „Engagements“ vor allem Frankreichs und Deutschlands verliert Europa in Afrika an Einfluss.

Wes Geistes Kind man ist, ist mitunter unfreiwillig schnell verraten. Dem Auswärtigen Amt reicht dafür ein Tweet mit weniger als 280 Zeichen. „Der russische Außenminister Lawrow ist in Afrika, nicht, um Leoparden zu sehen, sondern um unverblümt zu behaupten, die Partner der Ukraine wollten ‚alles Russische zerstören‘“, twitterte das Außenministerium am 24. Januar von seinem englischsprachigen Account. Anstelle des Wortes „Leopard“ stand dort ein entsprechendes Emoji. Tags darauf antwortete Ebba Kalondo, Sprecherin des Generalsekretärs der Afrikanischen Union (AU): Ob denn Annalena Baerbock afrikanische Länder besuche, um dort Tiere zu sehen? Oder sei der afrikanische Kontinent mit seinen Menschen und Tieren für sie nur ein Witz?

Infantile Witze über schwere Kriegswaffen, verbunden mit billigen Afrikaklischees – da fehlen nur noch hungernde Kinder, um die koloniale Geisteshaltung vollends auszubuchstabieren. Aus der „Bürde des weißen Mannes“ ist die „Bürde der weißen feministischen Außenministerin“ geworden, ansonsten bleibt alles beim Alten: Nur die Europäer vermögen, die unzivilisierten Wilden südlich des Mittelmeers von Unwissenheit und Armut zu erlösen.

Walter Rodney

Dass just diese Armut von den europäischen Kolonialmächten verursacht wurde, wies der guyanische Historiker Walter Rodney 1972 in seinem Werk „How Europe Underdeveloped Africa“ (der schlecht übersetzte deutsche Titel: „Afrika – Geschichte einer Unterentwicklung“) nach. Der Antiimperialist Rodney untersucht darin zunächst den Stand der ökonomischen Entwicklung Afrikas vor der Kolonialisierung, beschreibt dann, wie in Europa Rassismus entstand, um die kolonialen Interessen durchsetzen zu können, analysiert die Rolle der Ausbeutung Afrikas für die Kapitalakkumulation in Europa und widerlegt die Lüge vom „gemeinnützigen Kolonialismus“, dessen Objekte angeblich profitiert hätten von ihrer Unterjochung. Rodney stellt fest, dass die von den Kolonialmächten aufgebaute Infrastruktur ausschließlich dazu diente, Rohstoffe aus dem inneren Afrikas an die Küstenhäfen zu transportieren.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Mit gravierenden Konsequenzen: Die kaum entwickelte Infrastruktur ist eine immense Hürde für den Aufbau eigener Industrien und erschwert den innerafrikanischen Binnenhandel. Der macht nur etwa 15 Prozent des gesamten Handelsvolumens der AU-Mitgliedstaaten aus. Die Afrikanische Union möchte das ändern. Bis 2063 sollen sämtliche Hauptstädte des Kontinents mit Hochgeschwindigkeits-Schienenverkehr verbunden sein. Für dieses Mammutprojekt setzt die AU vor allem auf Hilfe aus China. Bis Ende 2021 haben chinesische Firmen schon über 6.000 Kilometer Schienen verlegt.

Schwindender Einfluss

Dieses Beispiel ist nur eines unter vielen, die zeigen, wie der Einfluss der EU in Afrika und damit die Kontrolle über die ehemaligen Kolonien schwindet. Eine Antwort auf Chinas Kooperation mit Afrika ist die „Global Gateway Initiative“. Die EU-Kommission startete das auf sechs Jahre angelegte Programm 2021. 300 Milliarden Euro will Brüssel in diesem Rahmen investieren. Der Betrag kommt dadurch zustande, dass vor allem längst geplante Investitionen umgewidmet wurden. „Wir werden intelligente Investitionen in hochwertige Infrastruktur fördern, die entsprechend unseren Werten und Ansprüchen höchsten Sozial- und Umweltstandards genügen“, behauptete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des Programms. Dieses „europäische Modell einer verlässlichen Vernetzung in Partnerländern“ sei langfristig angelegt und „entspricht den Interessen und Werten der EU: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie internationale Normen und Standards“, heißt es auf der Website der „Global Gateway Initiative“. Geld gibt es also nur für die Länder, die sich den Narrativen des Wertewestens unterordnen.

Françafrique

Mit den „Interessen und Werten der EU“ kennt man sich in Afrika bestens aus – ganz besonders mit denen der französischen Bourgeoisie. Totgeschwiegen in Europa, unvergessen in Afrika bleibt der Mord an Burkina Fasos Präsident Thomas Sankara am 15. Oktober 1987, mutmaßlich auf Betreiben der Regierung François Mitterrands. Drei Monate vor seiner Ermordung hatte Sankara die Länder Afrikas aufgefordert, sich dem Schuldendiktat von Weltbank und Internationalem Währungsfonds nicht mehr zu beugen und die Zahlungen einzustellen. Unvergessen der 9. November 2004, als französische Scharfschützen in Abidjan, der größten Stadt Côte d’Ivoires, 57 Menschen die Köpfe wegschossen. Die Getöteten hatten zusammen mit tausenden anderen eine Menschenkette um den Präsidentenpalast gebildet aus Angst, das französische Militär würde gegen ihren Präsidenten Laurent Gbagbo putschen.

Frankreichs Status als Großmacht gründet sich neben seinem Arsenal nuklearer Waffen und dem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN maßgeblich auf die Kontrolle seiner ehemaligen Kolonien in West- und Zentralafrika. Über 1.100 französische Konzerne mit gut 2.100 Tochtergesellschaften sind dort aktiv. Nur Britannien und die USA haben größere Summen in Afrika investiert. Frankreichs Kontrolle ist eisern: Mittels „Abkommen“ sichert sich die Regierung in Paris Vorkaufsrechte auf sämtliche natürliche Ressourcen seiner „Partnerländer“ sowie privilegierten Zugriff auf staatliche Aufträge. Im Gegenzug bietet Frankreich militärischen Schutz vor Putschversuchen gegen seine „Béni-oui-ouis“, den alles bejahenden lokalen Kompradoren. In Dschibuti, Côte d’Ivoire, Senegal und Gabun unterhält Frankreich ständige Militärbasen. Mit dem CFA-Franc kontrolliert Paris Währung und Geldpolitik von Benin, Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal, Togo sowie Äquatorialguinea, Gabun, Kamerun, Republik Kongo, Tschad und der Zentralafrikanischen Republik. Diese Länder zahlen 50 Prozent ihrer Devisenreserven in die französische Zentralbank. Der CFA-Franc ist fest an den Euro gekoppelt – eine Abwertung der eigenen Währung, um international wettbewerbsfähig zu werden, ist unmöglich. In den CFA-Franc-Zonen liegt die Marge französischer Unternehmen doppelt so hoch wie im „Mutterland“.

In den letzten 20 Jahren ist die Kritik an dieser Unterjochung immer lauter geworden. Der späte Muammar al-Gaddafi unternahm als Präsident der AU sogar konkrete Schritte, den CFA-Franc durch eine afrikanische Gemeinschaftswährung abzulösen. Sein Projekt sah die Einführung einer afrikanischen Investitionsbank mit Sitz im libyschen Sirte, eines Währungsfonds im kamerunischen Jaunde und einer Zentralbank im nigerianischen Abuja vor. Kurz nach Beginn der Unruhen in Libyen 2011 erfuhr die französische Regierung von diesen Plänen. Sidney Blumenthal, enger Berater der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton, schrieb am 2. April 2011 in einer E-Mail an seine Chefin: „Französische Geheimdienstoffiziere entdeckten den Plan, kurz nachdem die aktuelle Rebellion begann, und hierbei handelte es sich um einen der Faktoren, die die Entscheidung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy beeinflussten, Frankreich auf einen militärischen Angriff festzulegen.“ Die E-Mail gehört zu den über 30.000 Clinton-Mails, die von Wikileaks veröffentlicht wurden. Blumenthal wird darin noch deutlicher: Sarkozys Interventionspläne würden unter anderem von den „Sorgen seiner Berater über Gaddafis langfristige Pläne beinflusst, Frankreich als dominierende Macht im frankophonen Afrika abzulösen“.

Nicolas Sarkozy, dessen Wahlkampf Gaddafi 2007 noch mit 50 Millionen Euro unterstützt haben soll, bestrafte den libyschen Revolutionsführer dafür mit dem Tod. Die Intervention Frankreichs und der NATO in Libyen hatte überdies zur Folge, dass libysche Waffen en masse in den Sahel verkauft wurden und dort das Problem des islamistischen Terrorismus verschärften – was Frankreich wiederum zum Vorwand nahm, dort ab 2013 militärisch zu intervenieren.

Ende 2019 kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, den CFA-Franc durch eine neue Währung namens „Eco“ zu ersetzen. Die soll weiterhin fest an den Euro gekoppelt sein.

In dem 2021 erschienenen Sammelband „L’Empire qui ne veut pas mourir. Une histoire de la Françafrique“ unterteilen Mitglieder von Survie, einer Organisation, die gegen den französischen Neokolonialismus kämpft, Letzteren in drei Phasen. In der ersten zwischen 1969 und 1995 habe der Zugang zu Rohstoffen für französische Monopolkonzerne im Mittelpunkt gestanden. Von 1995 bis 2010, nach dem Ende des Kalten Kriegs, hätten die USA und Britannien stärkere Eigeninteressen geltend gemacht. West- und Zentralafrika bildeten keine geschlossene und abgeschottete Einflusszone Frankreichs mehr, die ehemalige Kolonialmacht musste sich mit stärkerer wirtschaftlicher Konkurrenz abfinden. In der dritten Phase ab 2010 habe Frankreich wieder verstärkt auf militärische Interventionen gesetzt – zum Beispiel mit dem Eingreifen in den ivorischen Bürgerkrieg bis 2011, ab 2013 dann im Sahel.

Am deutschen Wesen …

Die junge BRD konzentrierte sich zunächst auf das südliche Afrika, um Frankreich und den USA nicht in die Quere zu kommen. Besonders intensive Beziehungen pflegte sie mit Südafrika während der Apartheid. Zunächst orientierte sich die bundesdeutsche Afrikapolitik eng an Linien, die die Europäische Gemeinschaft 1975 im Lomé-Abkommen und die Europäische Union 2000 im Cotonou-Abkommen formulierte. Seit Mitte der 2000er Jahre wird die deutsche Afrikapolitik eigenständiger.

Das zeigte sich zunächst 2006, als die Bundesregierung 780 Soldaten im Rahmen der EU-Mission EUFOR RD CONGO in die Demokratische Republik Kongo schickte. Offiziell, um „freie Wahlen“ zu sichern. Tatsächlich ging es um Zugriff auf Rohstoffe. Damals stand die Neuvergabe von Konzessionen an, bei der Deutschland gegenüber Frankreich und Belgien nicht zu kurz kommen wollte, analysierte der Friedensforscher Peter Strutynski. Der Einsatz im Kongo war nicht der erste Bundeswehreinsatz in Afrika, aber der bis dahin größte.

Heute stehen neben dem südlichen Afrika, Ruanda und Marokko vor allem das Horn von Afrika und Westafrika im Zentrum der Interessen des deutschen Imperialismus. In Mali setzte die BRD ab 2013 eine noch höhere Zahl an Soldaten ein. Bis zu 1.400 deutsche Militärs entsandte die Regierung im Rahmen der UN-Mission MINUSMA. Der offizielle Auftrag: Malis Regierung bei der Umsetzung des Friedensabkommens mit den Tuareg-Sezessionisten im Norden und bei der Wiederherstellung staatlicher Autorität im Zentrum des Landes zu unterstützen. Dazu kam die Beteiligung an EUTM, einer militärischen Ausbildungsmission der EU, und an der „zivilen Krisenbewältigungsmission“ EUCAP Sahel Mali.

„Obwohl Deutschland selbst einmal Kolonialmacht war, ließ man anderen westlichen Ländern gerne den Vortritt, vor allem Frankreich“, schrieb Nikolas Busse am 23. Mai 2022 anlässlich einer Afrikareise von Bundeskanzler Olaf Scholz in der „FAZ“. Das könne „man“ sich nicht mehr leisten, wenn man europäische Führungsmacht sein wolle. Tatsächlich bemüht sich die Ampel-Koalition systematisch, ihren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einfluss in Afrika auszubauen.

… will Afrika nicht mehr „­genesen“

Diese Versuche fruchten immer seltener. Im Mai 2022 kündigte Malis Übergangsregierung gleich zwei „Verteidigungsabkommen“ mit Frankreich fristlos. Mitte August verließen die letzten französischen Soldaten das Land. Im November untersagte Präsident Assimi Goïta sämtlichen aus Frankreich finanzierten Nichtregierungsorganisationen die Tätigkeit in Mali. Schon zuvor hatte er den Zugang zu französischen Medien blockiert. Auch die Bundeswehr ist dort nicht mehr willkommen. Deren Einsatz soll im Mai 2024 enden. Dass der noch einmal verlängert wurde, liegt maßgeblich an Annalena Baerbock. Sie möchte einen „weiteren Einflussgewinn Russlands“ verhindern und wieder einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ergattern.

Malis neues Selbstbewusstsein stützt sich vor allem auf neue Partner wie Russland und China, aber auch den Iran. Was diese Länder gemeinsam haben? Sie erkennen Staaten an statt Regierungen und mischen sich nicht in deren innere Angelegenheiten ein.

Dieses Selbstbewusstsein steckt an. Es spricht aus dem eingangs zitierten Tweet von Ebba Kalondo und aus der Weigerung 18 afrikanischer Staaten, Russland für seinen Eintritt in den Ukraine-Krieg zu verurteilen. Und es zeigt sich darin, dass die Übergangsregierungen Malis, Burkina Fasos und Guineas – alle durch Militärputsche an die Macht gekommen, die von der EU lautstark kritisiert wurden – sich vor wenigen Tagen getroffen haben, um eine Föderation ihrer Länder zu diskutieren.

Wes Geistes Kind sie sind, ist offenkundig: Sie haben Walter Rodney gelesen und Thomas Sankara zugehört.

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"Unterentwicklungspolitik", UZ vom 17. Februar 2023



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