„The whole world is watching“ (Die ganze Welt sieht zu), skandieren Demonstranten in der Nähe des Hotels, in dem Anwaltsgattin Joy an einer Spendengala teilnimmt. 1968 ist Chicago in Aufruhr, tausende junge Menschen sind in die Stadt gekommen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und die Delegierten des Nominierungsparteitages der Demokraten dazu zu bewegen, sich für einen Kandidaten zu entscheiden, der den Vietnamkrieg beenden will.
Joy interessiert das alles nicht. Ihr Mann ist ein erfolgreicher Strafverteidiger, die Ehe ist glücklich, nette Nachbarinnen kümmern sich um die Tochter im Teenageralter und sie erwartet ihr zweites Kind. Besonders gut geht es ihr nicht, aber das ist ja normal, nicht wahr? Ist es leider nicht, und damit beginnt Joys persönliches Vietnam.
Sie hat eine durch die Schwangerschaft hervorgerufenen Kardiomyopathie, das Einzige, was helfen würde, wäre, nicht schwanger zu sein, eine andere Behandlung gibt es nicht. Ihre Überlebenschancen liegen bei 50 Prozent – höchstens.
Joy findet sich vor einem Gremium des Krankenhauses wieder, in dem Männer darüber entscheiden, ob Schwangerschaftsabbrüche ausnahmsweise gestattet werden – was nur ein Mal in den letzten zehn Jahren der Fall war. Sie reden über Joy statt mit ihr und entscheiden über ihren Kopf hinweg, dass sie die Schwangerschaft austragen muss, denn schließlich gibt es zu 50 Prozent am Schluss ein gesundes Kind. Joys Mann sitzt daneben und nimmt die Entscheidung hin. Für Joy beginnt eine Odyssee. Sie muss zwei Psychiater davon überzeugen, suizidal zu sein, um doch noch an die lebensrettende Abtreibung zu kommen, was ihr nicht gelingt. Den freiwilligen Sturz die Treppe runter, wie ihr die Sekretärin des Psychiaters geraten hat, bringt sie nicht über sich, aus der illegalen Abtreibungspraxis flieht sie. Voller Verzweiflung findet sie an einem Laternenpfahl einen Zettel, der Hilfe verspricht – und ruft Jane an.
In „Call Jane“ (Ruf Jane an) erzählt Regisseurin Phyllis Nagy mit einem phantastischen Ensemble (angeführt von der unschlagbaren Sigourney Weaver) die wahre Geschichte einer Untergrundorganisation von Frauen, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren Schwangerschaftsabbrüche ermöglichte. Verfolgt von Staat, Kirche und Mafia haben die Frauen, die die Aufforderung „Call Jane!“ im öffentlichen Raum verbreiteten, tausenden von Frauen geholfen, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Weil sie zu jung waren, weil sie vergewaltigt wurden, weil sie schon acht Kinder und kein Geld hatten, weil sie krank waren oder weil sie schlicht und ergreifend kein Kind wollten.
Im Film kann man Joy dabei folgen, wie die Janes ihr nicht nur durch den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch das Leben retten, sondern ihr auch den Weg zur Selbstermächtigung ebnen. Rührend, wie sich die verheiratete Mutter einer Tochter das erste Mal selbst im Spiegel betrachtet, ermutigend, wie sie Ehemann und Konventionen die Stirn bietet und alles daran setzt, dass Frauen die Hilfe erhalten, die ihr selbst zuteil wurde.
Erschreckend, wie aktuell dieser Film über die 1960er Jahre ist. Heute sind Schwangerschaftsabbrüche in einigen Bundesstaaten der USA wieder illegal, in anderen nur in so engen Zeiträumen zugänglich, dass Frauen kaum die Chance haben, eine Schwangerschaft zu bemerken, geschweige denn eine Entscheidung darüber zu treffen. Selbstherrliche alte Männer in Roben entziehen Medikamenten, die zu Schwangerschaftsabbrüchen dienen, die Zulassung. Selbst Kinder sollen gezwungen werden, Schwangerschaften auszutragen, per Gerichtsbeschluss. Und die ganze Welt sieht zu.