Kai Degenhardts neue CD „Auf anderen Routen“

Unsicherer Grund

Von Manfred Idler

unsicherer grund - Unsicherer Grund - Degenhardt, Musik - Kultur

Die CD kostet 15,99 Euro und man kann sie im UZ-Shop bestellen:

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Das Cover: Das Detail eines Schiffes, Backbordseite. Das Schiff fährt offenbar schnell, die Bugwelle zeigt es an. Der Horizont ist offen, der Blick in Fahrtrichtung versperrt durch eine Windblende. Eine lange rotgepolsterte Sitzreihe zieht sich, perspektivisch verkürzt, von der Blende bis über den rechten Bildrand. Dahinter der Stahl des Schiffsaufbaus, durchbrochen von einer Reihe großer Fenster, abgeschlossen von einem Rettungsring. Im optischen Zenrum des Bildes, im schmalen Gang zwischen Sitzreihe und Bordwand, steht ein Mann, die Schultern schlaff und den Kopf gesenkt. Sein Blick erreicht nicht die Wogen, bleibt an der Bordwand hängen. Sein Spiegelbild in einem der Fenster. Die entgegengesetzte Blickrichtung.

Was assoziiert man mit Seefahrt? Das Motiv ist bekannt, da brauchst du nicht lange zu suchen: Abschied, Ungewissheit. Schwankender Boden. Gestatten: The carpet too is moving under you.

Dieses Bild bestimmt den Grundton der neuen CD „Auf anderen Routen“von Kai Degenhardt. Nichts ist sicher, nicht im Privaten und nichts in der großen weiten Welt, deren Lauf immer noch vom Kapital bestimmt wird. Das ist keine anonyme Macht, aber es sind Menschen, die diese große Menschen fressende und Geld scheißende Maschine am Laufen halten. Auch die Freigestellten der herrschenden Klasse, die Funktionslosen, die im Hotel „Grand Imperial Übersee“ ihr gelangweiltes Dasein fristen, sie gehören dazu, mehr aber die Möglichmacher, die Miethirne im intellektuellen Bunker, die aus Zerstörung und Untergang noch den Profit zu schlagen wissen („Der Untergang“). Über ihnen der „Entscheider“, der pragmatische Bestimmer, Herr über Leben und Tod. Aus der Beschreibung wächst die Frage: Wer nimmt den Entscheidern, für die Menschen bloße Funktionen im Prozess der Mehrwertschöpfung sind, die Lizenz zum Entscheiden weg?

Kai Degenhardt weiß, wer dazu um seiner selbst Willen gezwungen sein wird. Leute wie Hermann, der zu der Erkenntnis gelangt ist, „ohne Streik wird es nicht gehen“. Doch der Streik wird nicht reichen, die Größe der Aufgabe schreit nach mehr als einem Streik. Es geht nicht ohne Hermann und es geht nicht ohne „Die Turnschuhmacher von Jakarta, die Näherinnen im Nildelta, Kumpel in der Mongolei, die Eisengießer von Mumbai“ und alle anderen, die jeden Tag um eine weitere Spanne noch erbärmlicheren Lebens zu kämpfen haben. Wenn sie und Hermann erkennen, wie es auch noch anders gehen könnte, dann hat die Stunde der „Entscheider“ geschlagen. Die Formen des Kampfes der da unten gegen die da oben sind vielfältig, ihre Geschichte ist lang, und viele „verkohlte Kadaver schwammen“ schon „unten im Bach“ („Zwei Reiter“).

Die randscharfe Darstellung von Typen ist eine der großen Stärken von Kai Degenhardt. Da ist der alerte Jugendoffizier – „einfach mal ganz unbefangen, unverbindlich“ – der die Sprache der Kids imitiert. Er versteht es, die Reize des Mords-Jobs als einen ganz normalen mit besonderen Herausforderungen schmackhaft zu machen. „Mehr open world geht nicht!“, wie die Bundeswehr auf der Games.com warb, das könnte auch er gesagt haben („Der Vorschlag“).

Viele, auch skurrile Typen bevölkern Degenhardts Weltentwurf. Da gibt es den singenden und dennoch bösen Eismann, vermutlich wohnt er auf der trostlosen Straße. Die Fatma mit den hohen schwarzen Stiefeln und der Wachsstange und der Hodenpresse – wer braucht solches Werkzeug? Da ist die sympathische Postbotin, die die Katzen füttert. Der Florist, der keinen Flieder hat. Die Barfrau, drei besoffene und bewaffnete Werftarbeiter ohne Stelle, die zu Selbsthelfern werden. Und zwischen ihnen der Erzähler. Der an einer einseitig aufgekündigten Liebe leidet und seinen Kompass neu justieren muss. Und dabei klingt Kai Degenhardts Stimme auf dieser CD so schön und klar wie noch auf keiner von ihm zuvor

Einen Ohrwurm habe ich unter den elf Tracks zum Glück nicht gefunden. Der musikalische Glanzpunkt ist für mich die Gitarre im dritten, wie sie von einem gut aufgelegten Mark Knopfler nicht besser zum Argumentieren gebracht werden könnte, und der vierte Track, in dem sich eine redselige Geige in die Zeilen des Liedtexts einmischt, ihnen widerspricht und sich sogar darüber lustig macht. Die Musikerinnen und Musiker haben verstanden und spielen präzise und einfühlsam, hervorzuheben ist Götz Steeger, weil er mit Klavier, Schlagzeug und Keyboard neben Kais Gesang und Gitarre sehr präsent ist.

Ein Booklet mit den Texten liegt dem Album bei, eine Gebrauchsanweisung nicht. Hörerinnen und Hörer sind auf eine alte Kulturtechnik angewiesen, die im allgemeinen Dauergeräusch fast versuppt ist: zuzuhören, und zwar genau. Also mit derselben Konzentration, wie es bisweilen beim Lesen noch gelingt und mit einer Aufmerksamkeitsspanne von mindestens einer Dreiviertelstunde. Dann erschließen sich Metaphern, die Wortfindungen, die Dialektik von Musik und Poesie und heraus kommt: Genuss.

Der Genuss dieses Hörabenteuers wäre gesteigert, könnte man die elf Lieder direkt von ihm hören, auf der Bühne und ohne den Umweg über den Player. Wenn man also sehen könnte, an welcher Stelle er den Kopf hebt und senkt, Atem holt, das Instrument streichelt. Das UZ-Pressefest wäre die erste Gelegenheit, und so war es geplant. Aber Kai steht nicht im Programm. Warum ist er nicht da, wo er hingehört, bei seinen Genossinnen und Genossen? Ist er auf anderen Routen unterwegs? Nein, der Grund ist profan. Kai hat sich den Arm gebrochen. Ohne rechte Hand keine Bühne. Wir wünschen ihm schnelle Heilung. So bleibt‘s vorerst bei der CD.

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"Unsicherer Grund", UZ vom 7. September 2018



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