Anmerkungen:
[1] SDAP – wurde am 8. August 1869 auf wesentliche Initiative von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach gegründet und bestand bis zum Zusammenschluss mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) (Vereinigungsparteitag in Gotha Ende Mai 1875) [2] Lohgerber – bezieht sich auf das Handwerk der Lohgerberei, einer spezialisierten Form der Gerberei, die Rinderhäute zu Leder verarbeitete. [3] Am 1. Mai 1886 streikten in den Vereinigten Staaten nach verschiedenen Schätzungen insgesamt zwischen 300 000 und 500000 Menschen für Arbeiterrechte. Der größte Streik fand in Chicago statt und umfasste rund 90 000 Teilnehmer. Dort schritt am 3. Mai die Polizei ein, um eine Versammlung von Streikenden aufzulösen, sechs Arbeiter wurden erschossen und weitere verletzt.Die Lage eskalierte am 4. Mai, als jemand eine Bombe in die Menge warf, die sich am Haymarket-Square versammelt hatte. Zwölf Menschen starben noch vor Ort. Die Polizei eröffnete das Feuer und tötete und verletzte eine unbekannte Zahl Arbeiterinnen und Arbeiter. Behauptet wurde, obgleich es keine Beweise gab, Anarchisten hätten die Bombe geworfen. Acht Streikführer wurden verhaftet, angeklagt. Vier von ihnen wurden hingerichtet, einer beging in seiner Zelle Selbstmord.
Auf dem 5. Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 in Den Haag stellte Karl Marx den Kongressteilnehmern einen Mann als „unseren Philosophen“ vor. Es war Josef Dietzgen, der als deutscher Delegierter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP)[1] auf dem Kongress vertreten war.
Worauf gründete dieses Lob von Marx – er wiederholte es für Dietzgens ökonomisches Denken auch im Vorwort seines ersten Bandes des „Kapitals“ (2. Auflage 1873) –, das auch mehrfach von Friedrich Engel geteilt wurde? Wer war dieser Mann, der heute in Ausführungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung kaum noch erwähnt wird, dessen Werke und Schriften zudem nur noch antiquarisch zu besorgen sind?
Eine Annäherung
In der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhundert begegnet uns Dietzgen als Repräsentant der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, einer Partei, die sich in zunehmendem Maße, natürlich in einem längeren, komplizierten und widerspruchsvollen Entwicklungsprozess, mit dem wissenschaftlichen Sozialismus und mit wesentlichen Theorien des vorliegenden und sich ständig erweiternden marxistischen Denkens verband. Überblickt man Dietzgens praktisches und theoretisches Wirken, so fällt auf, dass es eng mit den Emanzipationsbestrebungen der demokratischen und internationalen Arbeiterbewegung seiner Zeit verbunden ist. Wollte man sein Leben knapp charakterisieren, so könnte man den Arbeiterphilosophen als ein „internationales Subjekt“ verstehen. So wurde er zumindest in damaliger Polizeisprache bezeichnet. Eben dieses „Subjekt“ war einer der fähigsten Theoretiker der damals unter illegalen Verhältnissen kämpfenden deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung. Marx rühmte seine Aufsätze über „Das Kapital“ als Produkt eines, verglichen mit den meisten bürgerlichen Ökonomen „überlegenen Kämpen“, Franz Mehring hob später den „großen Reiz“ seiner Schriften hervor, die Dietzgen als einen eigenständigen materialistischen Dialektiker auswiesen und trotz gewisser theoretischer „Konfusionen“, die auch Marx schon angemerkt habe, „viel Vorzügliches enthalten“. Lenin wusste Dietzgens Beitrag zu dialektischen und historisch-materialistischen Erkenntnisfragen zu schätzen, er kam zu der begründeten Auffassung, Dietzgen sei alles in allem zu „neun Zehnteln Materialist“.
Lebensphasen
Geboren wurde Josef Dietzgen am 9. Dezember 1828 in Blankenburg (heute Teil von Bad Honnef), nicht weit von Bonn und Köln entfernt. Er besuchte eine Volksschule und für kurze Zeit noch eine „Bürgerschule“ in Köln, musste dann aber in den väterlichen Betrieb und lernte das Lohgerberhandwerk,[2]eine dreckige, stinkende Arbeit. Dennoch besaß er genug Neugierde und Wissensdurst, er eignete sich autodidaktisch die englische und französische Sprache an, las Aristoteles, Kant, Fichte, Saint-Simon, Fourier und Cabet. Die revolutionären Jahre 1848/49 hatten für den jungen Dietzgen eine entscheidende Bedeutung, er sagt später selbst, „Obgleich 1828 geboren, bin ich dort erst zwei Dezennien später, im sogenannten ‚tollen Jahr‘ 1848, in meine Welt getreten“. Der zwanzigjährige Dietzgen bildete, beeinflusst durch die publizistische Aufklärungsarbeit von Marx und Engels, in diesen Jahren seine eigene politische und ideologische Haltung aus, seine allmähliche Wandlung zum marxistischen Sozialisten nahm Gestalt an. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, wanderte er im Sommer 1849 in die USA aus, war Gerbergeselle, Anstreicher, aber auch schon Lehrer. 1851 glaubte er, in der Heimat wieder Fuß fassen zu können, übernahm die väterliche Werkstatt, heiratete und wurde Vater von sechs Kindern. Aber die Auswirkungen einer tiefen und umfassenden Wirtschaftskrise 1857 bereiteten seinen Überlegungen einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, damit er sich in der Hälfte des Tages „unbeschränkt der Wissenschaft hingeben könne“, ein heftiges Ende. Er wanderte ein weiteres Mal in die USA aus, der Bürgerkrieg und der offene Rassismus, den er mit deutlichen Worten kritisierte, trieben ihn und seine Familie wieder aus dem Land zurück ins Rheinland. 1864 versuchte er in Russland, in Sankt Petersburg, sein Glück, geschätzt als hochqualifizierter Fachmann des Gerbergewerbes. Hier schaffte er es, sein philosophisches Erstlingswerk „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit“ fertigzustellen. Auf Vermittlung von Marx erschien das Buch im gleichen Hamburger Verlag wie der erste Band des „Kapitals“ – bei Meißner. Die Beziehung zwischen Grundfragen der Philosophie wie „Geist und Materie“ oder „Denken und Sein“ behandelte Dietzgen nicht nur durch eine scharfe Kritik an Immanuel Kants (1724–1804) Auffassungen und des herrschenden Idealismus, sondern er brachte sie in Zusammenhang mit den Interessen der Arbeiterklasse und der politischen Praxis der Arbeiterbewegung. So formulierte er, „Das sozialistische Bedürfnis nach volkstümlicher Verteilung der wirtschaftlichen Produkte verlangt die Demokratie, verlangt die politische Herrschaft des Volkes und duldet nicht die Herrschaft einer Sippe, die mit der Prätension (Anmaßung) des Geistes nach dem Löwenanteil schnappt. Um diesen anmaßlichen Eigennutz in vernünftige Schranken zurückweisen zu können, ist es geboten, das Verhältnis des Geistes zur Materie klar zu verstehen. Diese Philosophie ist eine ganz nahe Angelegenheit des Arbeiterstandes.“ Dietzgen arbeitet sehr klar heraus, wo die sozialen Quellen des Idealismus zu finden seien und zeigte seine Tendenzen, mit der Behauptung des geistigen Primats des Lebens die „Ausbeutung des Volkes zu beschönigen“. Seine dialektisch-materialistische Wirklichkeitsauffassung antizipiert bereits Momente, die Lenin später in seinen philosophischen Überlegungen formulierte, so besonders den Materiebegriff. Bei Lenin heißt es, „Die Anerkennung irgendwelcher unveränderlicher Elemente, eines ‚unveräußerlichen Wesens der Dinge‘ ist nicht Materialismus, sondern ist metaphysischer, d. h. antidialektischer Materialismus. Daher betonte Dietzgen, dass ‚das Objekt aller Wissenschaft ein unendliches ist‘“.
Russland hin und zurück
Die Repressionen und Verfolgungen, die die russischen Arbeiterbildungsvereine zu erleiden hatten, verleideten Dietzgen das Leben in Russland, er ging mit seiner Familie wieder zurück ins Rheinland und übernahm 1869 die Gerberei und Lederhandlung seines Onkels in Siegburg bei Bonn. Dort besuchten ihn im September 1869 Karl Marx und dessen Tochter Jenny.
Natürlich war er in dieser Zeit weiterhin unermüdlich tätig, hielt Vorträge und schrieb Artikel, die vor allem im „Volksstaat“, im „Vorwärts“ und in „Die Neue Zeit“ erschienen. Er nahm an mehreren Parteitagen der Sozialdemokratie teil und beteiligte sich lebhaft an den Programmdebatten, schrieb Änderungsanträge und achtete auf deutlichen Abstand zu Lasalle und Gesinnungsgenossen. Er war nicht nur in regem Briefwechsel mit Marx, Engels, Bebel, Liebknecht, sondern ein ihm wichtiges Anliegen war die Propagierung des Marxschen Hauptwerks „Das Kapital“. Großen Dank erhielt er von Marx, nachdem dieser das Vorwort zur ersten französischen Ausgabe, geschrieben von Dietzgen, gelesen hatte. Und natürlich geriet er in den Fokus der reaktionären Staatsgewalt, im August 1878 stand er mit anderen in Köln vor Gericht, vorgeworfen wurde ihm die Aufforderung zum Ungehorsam, die Anreizung zum Klassenkampf, Staatsverleumdung und Gotteslästerung. Er musste im berühmt-berüchtigten Kölner „Klingelpütz“ 72 Tage ausharren, bis dass auch die zweite Instanz auf Freispruch erkannte.
Letzte Jahre
Im Herbst 1883 stand Dietzgen vor dem wirtschaftlichen Ruin, er schrieb damals: „… was heute noch Vermögen ist, ist über ein oder zwei Jahrzehnte keines mehr. Das bringt die Konzentration der Kapitalien unvermeidlich. Die kleine selbstständige Existenz wird gegenüber den riesig wachsenden Dimension der Produktion alle Tage unmöglicher.“ Erneut wanderte er aus und wieder in die USA. Dieses Mal ließ sich er sich in einem alten Haus im Norden New Jerseys nieder. Seine Parteigenossen nahmen ihn dankbar auf. Dietzgen übernahm die Chefredaktion der deutschsprachigen Wochenzeitung „Der Sozialist“, Zentralorgan der Sozialistischen Arbeiterpartei der USA. Die Auseinandersetzungen dieser Jahre waren geprägt von heftigen Debatten mit anarcho-syndikalistischen Teilen der Partei und in der gesamten Arbeiterbewegung in den USA. Dietzgen trat für die verfemten Anarchisten publizistisch ein, es war eine, nach Engels, „zweckdienliche Stellungnahme in einer bestimmten Situation größter, für die amerikanische Arbeiterbewegung bedrohlicher Krisenhaftigkeit, jedoch kein politisch-theoretisches Plädoyer für die mit der sozialistischen Arbeiterbewegung unvereinbare anarchistische Strategie“. Ab 1986 arbeitete er für die „Arbeiterstimme“ in Chicago.
Am 15. April 1888, noch nicht ganz sechzig Jahre alt, starb Josef Dietzgen an einem Herzschlag. Seine Parteigenossen legten ihn neben die ermordeten Arbeiterführer in Chicago ins Grab.[3]
Gedenken
Während in der DDR seine Schriften in drei Bänden, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, seit Anfang der 1960er Jahre den gebührenden Platz fanden, mehrere Tagungen und Konferenzen über die Jahre veranstaltet, Straßen nach ihm benannt wurden (so z. B. Die Dietzgenstraße in Berlin-Pankow), gilt für die „alte“ BRD das Gegenteil. In dem von Heinrich Potthof mit dem Segen der SPD-Parteiführung verfassten Standardwerk „Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945“ taucht Dietzgen nicht einmal namentlich auf. Nach Kenntnis des Autors gab es vor 1989 in der BRD nur einmal eine wissenschaftliche Tagung. Sie wurde von der „Josef-Dietzgen-Gesellschaft Bonn e. V.“ veranstaltet, einer Organisation der „Marxistischen Arbeiterbildung (MAB)“, und fand im November 1978 in Bonn statt. Es ist erfreulich, dass der „Josef-Dietzgen-Club Siegburg e. V.“ am 15. April in seiner Heimatstadt eine Gedenkfeier anlässlich des 130. Todestages „unseres Philosophen“ ausrichtet und viele Freunde der revolutionären Arbeiterbewegung dazu einlädt.