Hetzkampagne gegen Antikolonialen Weihnachtsmarkt in Darmstadt

Unschuldsvermutung abgesprochen

Leon Wystrychowski

Über Kolonialismus zu sprechen, galt in Deutschland lange als uninteressant oder als Tabu – oder eine Mischung aus beidem. Mittlerweile aber gefallen sich deutsche Wissenschaftler und Medien darin, die koloniale Vergangenheit „aufzuarbeiten“, sogar die eigene. Manchmal verfolgt man „koloniale Spuren“ sogar noch bis in die Gegenwart hinein. Tabu bleibt aber, über den Kolonialismus von heute zu sprechen oder gar auf Apartheid und Genozid als dessen Merkmale zu verweisen. Dann nämlich geht es unweigerlich um Palästina. Das musste zuletzt die Darmstädter Michaelsgemeinde erleben. Sie hatte der Gruppe Darmstadt für Palästina erlaubt, am dritten Adventssonntag einen Antikolonialistischen Friedens- und Weihnachtsmarkt durchzuführen.

„Besorgt“ gegen Antikolonialismus

Daraufhin gingen bei ihr Beschwerden „besorgter Bürger“ ein. Die behaupteten, dass die Feststellung von Tatsachen wie der, dass der Staat Israel aus einer Kolonialbewegung hervorgegangen ist, dass Israel bis heute palästinensisches Land raubt und besiedelt, dass in ganz Palästina Apartheid herrscht und dass die israelische Armee im Gazastreifen einen Genozid begeht, antisemitisch sei. Andere meinten, ein Weihnachtsmarkt mit dem Attribut „antikolonial“ erschwere den Dialog in Zeiten, wo dieser ohnehin kaum stattfinde.

Derlei um angeblichen „Antisemitismus“ und vermeintlichen Dialog besorgte Schreiben sind nicht nur voll auf Linie der in Deutschland allgegenwärtigen antipalästinensischen Hysterie in Politik und Medien. Sie sind auch eine wichtige Ergänzung zu deren Meinungsmache und Cancel Culture. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Mainstream-Medien auf den „Fall“, der bis dahin gar keiner gewesen war, aufmerksam wurden: „hessenschau“ und Springer-Presse sprachen einhellig von „offenem Antisemitismus“, die FAZ phantasierte von „Hamas-Propaganda“ und die rechtsradikale „Junge Freiheit“ sprach von einer „Hamas-Party“. Auch die „Jüdische Allgemeine“, der islamfeindliche Blog „Honestly Concerned“, die Darmstädter AfD, der FDP-Politiker Tobias Huch und der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker (CDU) mischten mit. Als Aufreger dienten verschiedene Produkte, die auf dem Markt verkauft worden sein sollen: Kekse in Herzform, auf denen „Never again for everyone“ standen, hätten den Holocaust relativiert, Schlüsselanhänger in Form von Palästina-Karten die Vernichtung Israels propagiert und Schilder mit der Aufschrift „From the River to the Sea, Palestine Will Be Free“ sowie Kalligraphien in Form eines roten Dreiecks seien „Hamas-Symbole“.

Morddrohungen und Solidaritätsbekundungen

Der Druck wirkte: Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat die Michaelsgemeinde in einem öffentlichen Schreiben aufgefordert, sich von der Aktion zu distanzieren, und begrüßte gleichzeitig die Strafanzeigen, die die Jüdische Gemeinde gegen die Kirchengemeinde erstattete. Dem zuständigen Pfarrer Manfred Werner sei zudem mit Beschluss vom 19. Dezember 2024 die Ausübung seines Amtes untersagt worden. Dieser „bedaure zutiefst, dass es zu diesem Vorfall gekommen ist“. Zugleich berichtet Werner, er habe per Telefon und SMS mehrere Morddrohungen gegen ihn und seine Familie erhalten. Daher habe er derzeit ohnehin zu viel Angst, sein Amt weiter auszuüben, erklärte er dem Evangelischen Pressedienst.

Solidarität mit der Michaelsgemeinde und Darmstadt für Palästina kam hingegen vom Darmstädter Friedensbündnis. In einem offenen Brief sprach das Bündnis von einer „völlig überzogene(n) mediale(n) und politische(n) Skandalisierung“. In einem Statement erklärte Darmstadt für Palästina, man sei „zutiefst schockiert darüber, wie die Michaelsgemeinde und ihre guten Absichten in der Presse dargestellt werden.“ Die Gruppe kritisierte, ihnen und der Gemeinde werde die „Unschuldsvermutung abgesprochen“. Man lasse sich jedoch „nicht einschüchtern. Wir stehen entschlossen für Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ein – bis zum Schluss.“

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