Eine Rede des vergangene Woche in Spanien festgenommenen Schriftstellers Dogan Akhanli

Unschuldig fühlen wollen

Der in Deutschland lebende und arbeitende Schriftsteller Dogan Akhanli ist vergangene Woche auf Verlangen der türkischen Regierung in Spanien festgenommen worden. Am 20. August kam der 60-Jährige wieder frei, darf aber Spanien bis auf Weiteres nicht verlassen.

Die Festnahme ist Teil einer langen Verfolgungsgeschichte Akhanlis durch den türkischen Staat. Schon 1975 verbrachte er fünf Monate in Untersuchungshaft – wegen Kaufs einer linken Zeitschrift. 1987 kam Akhanli in Haft und wurde gefoltert, ebenso seine Frau. 1991 emigrierte er nach Deutschland und begann mit dem Schreiben. Seine Themen unterer anderem: Der Genozid an den Armeniern 1915/1916 („Die Richter des jüngsten Gerichts“), die Versenkung des Flüchtlingsschiffs „Struma“ 1942 im Schwarzen Meer („Der letzte Traum der Madonna“). 2010 wurde er während einer Türkeireise noch einmal festgenommen.

Engagiert ist Dogan Akhanli auch bei der Erinnerung an den Brandanschlag von Mölln vom 23. November 1992, bei dem zwei junge türkische Mädchen und ihre Großmutter zu Tode kamen und neun weitere Mitglieder der Familie Arslan zum Teil schwer verletzt wurden. Bei einer Veranstaltung im vergangenen Jahr zum Gedenken an diesen Anschlag hielt der Schriftsteller die folgende Rede:

„Ich wusste und weiß, warum ich verfolgt und gefoltert wurde. Ich war ein entschlossener Untergrundkämpfer. Ich war ein Kommunist und wusste, wenn sie mich fassen, dann foltern sie mich zu Tode. Trotzdem habe ich weiter im Untergrund gegen die Militärdiktatur agiert. Ich hatte aber die Möglichkeit, einfach aufzuhören. Ich hatte die Möglichkeit, einfach ins Ausland zu fliehen. Anders als Familie Arslan. Familie Arslan war einfach hier. Drei Angehöriger wurden so willkürlich ermordet, dass sie nicht einmal wussten, wie Großvater Nazim es richtig zur Sprache gebracht hat, warum sie sterben mussten. (…)

Ich dachte, dass Deutschland eines der sicheren Länder für Einwanderer geworden war …

Ich war nicht schockiert, dass die NSU-Täter wie Vernichtungspropheten unterwegs waren und zehn Menschen ermordeten. Vernichtungsfantasien kann man aus den Köpfen nicht tilgen. Vernichtungsseelen kehren wieder, trotz aller Erfahrungen und trotz aller Aufarbeitung. Wie in der Vergangenheit wird es in der Zukunft Menschen geben, die sich als Vernichtungspropheten betrachten. Hier und überall.

Schlimmer war, dass die von mir so geschätzte Erinnerungskultur Deutschlands plötzlich wie ausgelöscht schien. Kein Blick auf die Voraussetzungen dieses Terrors, keine Bereitschaft, Verbindungen zu ziehen, Blindheit, Verweigerung, Projektionen. Von einem schlichten Versagen des Staates bei der Verfolgung der TäterInnen kann man gar nicht reden. Nach fünf Jahren NSU-Prozess müssen wir feststellen: Die Sicherheitsbehörden haben nicht nur versagt. Sie haben es verdient, als Dulder und Mittäter betrachtet zu werden.

Wer fühlt sich jetzt unschuldig? Mölln? Solingen? Köln und seine Verfassungsschutzzentrale?

Ich kann ohne Ohnmachtsgefühle die Gerichtsprotokolle des NSU-Prozesses nicht mehr lesen. Ohne Ohnmachtsgefühl kann ich nicht mehr die Protokolle der parlamentarischen Untersuchungskommissionen lesen. Nicht nur die Angehörigen der Ermordeten, die jahrelang von den Ermittlern verdächtigt wurden, sind enttäuscht, sondern auch ich bin enttäuscht, ich, der ich dem Staat und seiner Aufarbeitungsleistung vertraut hatte …

,Mölln fühlt sich unschuldig.‘ Was für ein Satz. Wie viel Leugnung, wie viel Verweigerung steckt darin. ‚Die Zeit‘ hat dies Unschuldsempfinden damals, 1992, zu Recht nicht gelten lassen. Umso weniger können wir einen solchen Satz heute, 24 Jahre und viele rassistische Gewalttaten später, gelten lassen. Und doch ist es ein gesellschaftliches Desaster, wie viele Menschen und Institutionen heute diesen Satz für sich reklamieren: wie viele sich unschuldig fühlen wollen. Unschuldig am rechten Terror, unschuldig an den Morden des NSU, unschuldig an der Tatsache, dass organisiertes Morden zehn Jahre lang unentdeckt blieb.

Wir dürfen uns solchem Leugnen der Verantwortung nicht ohnmächtig ergeben. Wir müssen für die Erinnerungslandschaften in Deutschland kämpfen und für ihre Ausweitung eintreten, wie es die Familie Arslan unermüdlich betreibt. Ibrahim Arslan sagt, dass die Opfer keine Statisten sind. Sie sind die Hauptzeug_innen des Geschehens. Deshalb gedenken wir ihrer.

Deshalb erinnern wir uns nicht nur des Anschlags in Mölln, deshalb gedenken wir der Gewaltgeschichte hier und in anderen Ländern. Deshalb müssen wir einen transnationalen Erinnerungsraum schaffen und ihn größer und unübersehbarer machen, wie das Kutlu Yurtsever mit der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano, tut.

Wenn die Vernichtungspropheten und ihre Komplizen ankündigen, dass sie wieder da sind, müssen wir aufstehen, wir, die wir die Mehrheit sind, und sagen:

Wir sind auch da!“

Quelle: https://gedenkenmoelln1992.wordpress.com/

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"Unschuldig fühlen wollen", UZ vom 25. August 2017



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