Naher und Mittlerer Osten: umfassender regionaler Krieg scheint unausweichlich

Unkontrollierbare Eskalation

Wiebke Diehl

Man trete „in eine neue Phase des Krieges ein, die uns Mut, Entschlossenheit und Ausdauer abverlangt“, erklärte der israelische Verteidigungsminister Joaw Gallant am 18. September auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramat David, der unter anderem für Luftangriffe auf den Libanon und Syrien genutzt wird. Das von ihm und von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ausgegebene Ziel: den Bewohnern des Nordens eine „sichere“ Rückkehr in ihre Häuser zu ermöglichen. Kurz zuvor war es im Libanon zu einer zweiten Explosionswelle von Funkgeräten gekommen, nachdem tags zuvor unter eklatantem Verstoß gegen die Genfer Konventionen bereits Tausende Pager explodiert waren – im Supermarkt, auf offener Straße oder zu Hause am Wohnzimmertisch, in einer Vielzahl der Fälle mitten unter Zivilisten.

Hisbollah reagiert auf Angriffe

Nur Tage später, am Morgen des 22. September, treffen Raketen der Hisbollah neben einem Standort des Rüstungsunternehmens Rafael auch eben jenen Luftwaffenstützpunkt Ramat David. Beide liegen in der Nähe von Haifa und sind damit die am weitesten entfernten von der Hisbollah seit 2006 angegriffenen Ziele. Beide waren bereits im Juli in einem Video aufgetaucht, das eine von der Hisbollah bis tief ins israelische Kernland entsandte Drohne aufzeichnete, ohne von der israelischen Militär- und Geheimdienstaufklärung auch nur bemerkt worden zu sein.

In einer Erklärung bezeichnete die Hisbollah den Angriff auf den einzigen israelischen Luftwaffenstützpunkt im Norden und auf das Rüstungsunternehmen als „erste Reaktion“ auf die Explosion der von ihr verwendeten Kommunikationsgeräte, die – daran besteht kaum ein Zweifel – vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad abgefangen und mit Sprengstoff bestückt worden waren. Vorausgegangen war am 20. September aber auch die Tötung von 45 Menschen in den südlichen Vororten Beiruts durch die israelische Luftwaffe – mitten im Machtzentrum der Hisbollah und in einem dicht besiedelten Wohngebiet. Dabei kamen neben zahlreichen Zivilisten, darunter drei Kinder und sieben Frauen, insgesamt 16 Hisbollah-Kommandeure ums Leben, unter ihnen der Chef der Eliteeinheit Radwan, Ibrahim Akil, und der ebenfalls hochrangige Radwan-Kommandeur Ahmed Mahmud Wahbi.

Israel schließt Bodenoffensive nicht aus

Seither intensiviert sich der bereits seit Oktober andauernde regionale Krieg im Eiltempo. Die israelische Luftwaffe fliegt Hunderte Angriffe täglich auf libanesisches Gebiet, mit Hunderten Toten und Tausenden Verletzten. Die Libanesen im Süden des Landes und in der Bekaa-Ebene hat sie aufgefordert, sich „in Sicherheit“ zu bringen. Es muss davon ausgegangen werden, dass Tel Aviv ernst macht und einen umfassenden Krieg gegen das Nachbarland anstrebt, in den es auch die USA und den Westen insgesamt ziehen und durch die es von seinen militärischen Misserfolgen im Gazakrieg ablenken will. Auch eine Bodenoffensive will Armeesprecher Daniel Hagari nicht ausschließen.

Die Hisbollah, deren Waffenarsenal es ihr ermöglichen würde, ganz Israel zu erreichen, konzentriert sich bislang darauf, den Norden zu beschießen. Zugleich zielen ihre Raketen immer tiefer in israelisches Gebiet. Am Montag setzte sie erstmals Langstreckenraketen ein, die auf völkerrechtswidrige israelische Siedlungen im Westjordanland, östlich von Kalkilia und in Nablus, zielten. Ihr stellvertretender Generalsekretär Naim Kassim droht, eine „offene Schlacht der Abrechnung“, sei eröffnet. Bereits Anfang August, nach der gezielten Tötung des hochrangigen Hisbollah-Kommandeurs Fuad Shukr, hatte Generalsekretär Hassan Nasrallah gewarnt, im Falle eines umfassenden Krieges werde „kein Ort“ in Israel verschont bleiben. Man werde „ohne Zwänge, Regeln und Grenzen“ kämpfen.

Warnung vor Fünffrontenkrieg

Der israelische Generalmajor der Reserve Itzhak Brik, der bereits Monate vor dem 7. Oktober vor einem ebensolchen Szenario gewarnt hatte und die Moral und Kampffähigkeit der israelischen Armee insbesondere im Bodenkampf bemängelt, veröffentlichte am Tag der Angriffe auf die Pager der Hisbollah einen Kommentar in der Zeitung „Haaretz“. Darin analysierte er zum wiederholten Mal, der israelischen Armee werde ein Sieg über die Hamas auch in Zukunft nicht gelingen. Dementsprechend sei sie „sicherlich“ auch nicht in der Lage, einen Krieg gegen die „hundertmal mächtigere“ Hisbollah zu gewinnen. Vor allem aber warnte Brik vor einem Fünffrontenkrieg, dem sich Israel im Falle einer Bodeninvasion im Libanon ausgesetzt sehen werde – an der libanesisch-israelischen und der jordanisch-israelischen Grenze, auf den besetzten syrischen Golanhöhen, im Westjordanland und im Gazastreifen. In dessen Verlauf könnten „Tausende von Raketen, Geschossen und Drohnen auf Israels Heimatfront abgefeuert werden“, es werde aber auch an allen fünf Fronten zu Bodenkriegen kommen. „Extremistengruppen aus Israel und pro-iranische Kräfte werden über die jordanische Grenze eindringen“, so Brik. Die Regierung gefährde mit ihrer Eskalationspolitik „unsere Existenz“.

Achse des Widerstands

Am Tag des Hisbollah-Angriffs auf den Luftwaffenstützpunkt Ramat David bekannte sich auch der „Islamische Widerstand im Irak“, ein Bündnis von aus dem Iran unterstützten bewaffneten Gruppen, das wie die Hisbollah seit vergangenem Oktober als „Unterstützungsfront“ für Gaza agiert, zu Angriffen auf Ziele in Israel. Und auch die jemenitischen Ansar Allah („Huthis“) beteuern seit Monaten, im Falle eines umfassenden israelischen Kriegs gegen den Libanon an dessen Seite zu stehen. Zudem steht eine Reaktion auf den israelischen Angriff auf die jemenitische Hafenstadt Hodeida, den die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch als „potenzielles Kriegsverbrechen“ bezeichnet hat, weiterhin aus. Mitte September griffen die Ansar Allah – kurz nachdem die Regierung Netanjahu ihre Kriegsdrohungen gegen den Libanon intensiviert hatte – Tel Aviv erstmals mit einer Hyperschallrakete an und bewiesen damit nicht nur ihre weit fortgeschrittenen militärischen und technologischen Fähigkeiten, sondern auch die Verwundbarkeit Israels, dessen Luftabwehr zum wiederholten Mal versagte. Vor allem aber machte der Angriff erneut deutlich, was die „Achse des Widerstands“ seit vergangenem Oktober unterstreicht: die militärischen Aktionen der israelischen Armee an einer der Fronten hat Konsequenzen für die gesamte Region und setzt Israel weiteren beziehungsweise verstärkten Angriffen aus.

Dass Israel – sofern die USA und andere westliche Partner nicht direkt militärisch eingreifen – für den selbst beförderten Krieg gewappnet ist, bezweifelt nicht nur der Reservegeneral Brik. Dies gilt selbst, wenn die Armee es „nur“ mit der Hisbollah als Gegner zu tun hätte. Deren Kämpfer, die schon im Juni-Krieg 2006 Israel zum Abzug zwangen, haben ihre Kampfkraft und ihr Arsenal erheblich ausgebaut. Die Hisbollah gilt längst als der am stärksten bewaffnete nichtstaatliche Akteur der Welt. Sie verfügt Schätzungen zufolge über mindestens 150.000, möglicherweise sogar 200.000 Raketen und Flugkörper, von denen viele seit 2006 mit Lenksystemen ausgestattet worden sind. Seit Monaten nehmen die militärischen Operationen der Hisbollah an Komplexität und Präzision zu. Dabei hat sie nach Ansicht von Experten bislang lediglich etwa 10 Prozent ihres Arsenals zum Einsatz gebracht, während die israelische Armee in einem Jahr Gazakrieg auf einen Großteil ihrer Kapazitäten zurückgreifen musste, ohne ihre proklamierten Kriegsziele – die Vernichtung der Hamas und die Befreiung der Geiseln – erreichen zu können.

Die Nationale Katastrophenschutzbehörde des israelischen Verteidigungsministeriums geht davon aus, dass die Hisbollah in der Lage wäre, täglich 5.000 Raketen- und Drohnenangriffe auf Israel auszuführen. Anders als beim iranischen Vergeltungsangriff für die israelische Bombardierung von Teherans Konsulat in Damaskus, als die USA und ihre Verbündeten bereits bei der Abwehr von Drohnen und Raketen unterstützen mussten, erschwert die weitaus geringere geographische Distanz der Hisbollah ein entsprechendes Unterfangen deutlich. In einem umfassenden Krieg – davor warnen israelische Experten schon seit Langem – könnte zudem die gesamte Energieinfrastruktur Israels zum Ziel werden und zusammenbrechen. Im Juni warnte Shaul Goldstein, der Chef des israelischen „Independent System Operator Ltd“, dem für die Planung der Stromversorgung des Landes zuständigen Unternehmen, Israel sei auf einen Krieg mit der Hisbollah nicht vorbereitet: „Wir können keinen Strom versprechen, wenn es im Norden Krieg gibt. Nach 72 Stunden ohne Strom wird es unmöglich sein, hier zu leben.“ Einen schweren Schlag könnten der israelischen Stromversorgung auch mögliche Angriffe auf die drei Offshore-Gasfelder Leviathan, Tamar und Karish zufügen, die die meisten Kraftwerke des Landes mit Strom versorgen. Außerdem könnte es, wie bereits während des Kriegs von 2006, zu Unterbrechungen der Ölversorgung kommen. Obwohl sich Israel der Gefahr für seine Energieinfrastruktur, deren Zusammenbruch auch militärische Fähigkeiten erheblich einschränken würde, bewusst ist, wird dem „Schutz militärischer Vermögenswerte“ weit höhere Priorität gegenüber der Sicherung von Infrastrukturen wie der Stromversorgung zugemessen, wie im Juni eine Studie des „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) zu Tage förderte.

Iron Dome ist längst ­durchlöchert

Hoch gefährlich für Israel ist, dass die Hisbollah seit Monaten systematisch israelische Überwachungs- und Abwehranlagen an der Grenze außer Gefecht setzt. Auch die Meron-Luftüberwachungsbasis, die für den Schutz des Nordens Israels, aber auch für Luftoperationen unter anderem in Richtung Syrien und Libanon zuständig ist, wurde wiederholt zum Ziel ihrer Angriffe. Die Eiserne Kuppel (Iron Dome), der vielgelobte Schutzschild Israels, ist längst durchlöchert. Berichten zufolge hat die Hisbollah bis Anfang Juni über 1.650 Geräte für Aufklärung, Überwachung und Zielerfassung zerstört. Auch deshalb sagen 40 Prozent der evakuierten israelischen Bewohner des Nordens, sie wollten auch im Falle eines Kriegsendes nicht in ihre Häuser zurückkehren. Sie haben ihr Vertrauen, dass Staat und Armee sie schützen, nachhaltig verloren. Die Behauptung der Regierung Netanjahu, ein Krieg gegen den Libanon – im israelischen Jargon gegen die Hisbollah – werde eine „sichere“ Rückkehr ermöglichen, ist nichts als Augenwischerei. Im Gegenteil: Hunderttausende werden wahrscheinlich auf beiden Seiten der Grenze zur Flucht gezwungen werden. Wann und ob sie zurückkehren können ist völlig ungewiss. Nur ein Ende des Gazakriegs, das haben die Hisbollah und die anderen Mitglieder der „Achse des Widerstands“ unmissverständlich deutlich gemacht, kann dazu führen, dass die Angriffe der „Unterstützungsfront“ auf Israel eingestellt werden.

Gazakrieg muss beendet ­werden

Zweifellos wird ein umfassender Krieg zu unzähligen Opfern auf beiden Seiten führen. Im Jahr 2006 hat die israelische Armee den Kampf gegen die Hisbollah verloren. Aber sie hat großflächige Zerstörungen an zivilen Wohnhäusern, an Straßen und Brücken, Schulen, Krankenhäusern, Kraftwerken und dem Flughafen von Beirut hinterlassen. 1.500 Menschen starben, die meisten davon libanesische Zivilisten. Das von israelischer Regierung und Armee schon damals und heute auch im Gazastreifen bediente Narrativ: im Südlibanon gebe es ausschließlich (potenzielle) Terroristen. In Gaza hat die israelische Armee im vergangenen Jahr über 40.000 Menschen getötet, die Mehrheit davon Frauen und Kinder. Und im Libanon starben am Montag an nur einem Tag fast 500 Menschen, ein Drittel der Toten von 2006. Die Hisbollah und ihre Verbündeten, daran haben sie keinen Zweifel gelassen, werden sich mit Gegenangriffen auf Israel – wahrscheinlich ebenfalls mit vielen Todesopfern – wehren.

Seit Monaten demonstrieren Zehntausende auf den Straßen Tel Avivs gegen ihre Regierung und deren auch für Israel zerstörerische Politik und für einen Waffenstillstand in Gaza. Es müsste oberste Priorität der vielbeschworenen Staatsräson sein, sich auf ihre Seite zu stellen und nicht auf die der rechtesten und – neben der gesamten Region – auch für Israel selbst bedrohlichsten Regierung, die das Land je hatte.

Gegen Israels Blutvergießen und die Mithilfe der BRD
Am 17. und 18. September explodierten im Libanon Tausende von Pagern und drahtlosen Funkgeräten, die mit Sprengstoff versehen worden waren. Dies führte zum Tod von 37 Menschen, darunter auch Kinder. Mehr als 3.250 Menschen wurden verletzt. Diese Geräte befanden sich unter anderem bei Mitarbeitern von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, die sie für Notfälle verwendeten. Daran, dass dieser Terroranschlag vom israelischen Geheimdienst Mossad organisiert und durchgeführt wurde, bestehen keine Zweifel mehr. Dass ein solcher Angriff ohne Kenntnis entsprechender Stellen in den USA geplant wurde, erscheint sehr unwahrscheinlich.

Der israelische Terroranschlag steigert die Gefahr eines umfassenden Kriegs im Nahen Osten enorm, was sicher auch eines seiner Ziele ist. Die Bundesregierung hat bisher keine Stellung zu der Frage bezogen, ob es sich um einen Terroranschlag handelt, geschweige denn ihn verurteilt. Am 18. September enthielt sich die BRD bei der Abstimmung einer Resolution in der UN-Generalversammlung, die mit einer überwältigenden Mehrheit ein Ende der israelischen Besatzung forderte.

Die imperialistischen Unterstützer der israelischen Kriegspolitik, darunter auch die Bundesregierung, sind mitverantwortlich für das Blutvergießen und die Kriegsgefahr.

Die DKP ist solidarisch mit dem palästinensischen Volk und seinem jahrzehntelangen Kampf. Wir fordern ein sofortiges Ende des Völkermords in Gaza, ein Ende der israelischen Besatzungs- und Kriegspolitik, nicht nur in Palästina, sondern auch im Libanon.

Die DKP ist solidarisch mit der Bevölkerung und den antiimperialistischen Kräften des Libanon, die unter israelischen Angriffen und Terror leiden und durch diese eingeschüchtert werden sollen.
Wir unterstützen unsere Schwesterpartei, die Libanesische Kommunistische Partei, die zu Aktionen und zur Unterstützung von Gesundheits- und Sozialorganisationen im Libanon aufruft.

Aus einer Erklärung der DKP vom 21. September 2024


Als Soforthilfe hat der Parteivorstand der DKP am vergangenen Sonntag 1.000 Euro an die Genossen im Libanon überwiesen.

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"Unkontrollierbare Eskalation", UZ vom 27. September 2024



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