Unwissen kann man Hubertus Heil nicht unterstellen. Noch im vergangenen November reagierte der Bundesarbeitsminister auf Kürzungsforderungen der CDU-Spitze beim Bürgergeld mit den Worten: „Friedrich Merz verschweigt der deutschen Öffentlichkeit, dass die Anpassung des Bürgergelds der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums entspricht.“
Keine zwei Monate später ist im sozialdemokratisch geführten Arbeitsministerium von einem „menschenwürdigen Existenzminimum“ keine Rede mehr. Ein in der vergangenen Woche veröffentlichter Gesetzentwurf sieht stattdessen vor, Bürgergeldempfängern, „die jegliches Arbeitsangebot ablehnen, die Regelleistung für die Dauer von bis zu zwei Monaten komplett zu streichen“. Laut eines Bundesverfassungsgerichtsurteils aus dem Jahr 2019 dürfen Jobcenter bisher maximal 30 Prozent des Bürgergelds kürzen. Lediglich die Kosten für Unterkunft und Heizung sollen künftig weitergezahlt werden.
Als Begründung für die Verschärfungen müssen einige wenige Bürgergeldbezieher herhalten, die laut Berichten aus den Jobcentern „zumutbare Arbeitsaufnahmen beharrlich verweigerten und somit bewusst ihre Hilfebedürftigkeit aufrechterhalten beziehungsweise nicht vermindern.“ Der Arbeitsminister selbst spricht von einer Gruppe von maximal 20.000 betroffenen Personen, was im Vergleich zu den rund 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehern verschwindend gering ist.
Unterstützung erhält Heil für seine politische Kehrtwende neben der AfD auch von FDP und CDU. „Damit setzt der Arbeitsminister nicht nur seinen Beitrag zum Haushaltskonzept 2024 um. Vor allem wird die Akzeptanz des Sozialstaats gestärkt, wenn auch Gegenleistungen gefordert werden“, sagte Christian Lindner der Deutschen Presse-Agentur. Im kommenden Jahr müsse weiter in diese Richtung gedacht werden, so der Finanzminister. „Wer sich aus Bequemlichkeit jedem Jobangebot verweigert, darf nicht darauf zählen, dass ihn die Solidargemeinschaft dabei auch noch finanziell unterstützt“, ergänzte Stephan Stracke, Sozialpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ging noch einen Schritt weiter und forderte die komplette Abschaffung des Bürgergelds. Kritik an den Sanktionsverschärfungen erhält Heil hingegen aus den eigenen Reihen. „Der Vorschlag, sämtliche Leistungen abseits der Miete zu streichen, ist weder mit der Menschenwürde noch mit dem Grundgedanken des Bürgergelds vereinbar“, kommentierte Juso-Vorsitzender Philipp Türmer im „Tagesspiegel“ den Gesetzentwurf.
Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband warnte in der ARD, die Bundesregierung treibe Menschen ins Elend. Auch die Diakonie kritisiert das Vorhaben der Totalsanktionen scharf. Das sei kontraproduktiv, denn es würde besonders Menschen mit besonderen Problemen hart treffen, zum Beispiel jene, die nicht gut lesen und schreiben können oder die beispielsweise Suchtprobleme haben. Aus der Linkspartei kam die Kritik, die Ampel-Regierung spiele Menschen gegeneinander aus, weil sie nicht bereit sei, Reiche und Vermögende stärker zu belasten.
Tatsächlich spielen bei den Kürzungsplänen nicht allein arbeitsmarktpolitische Aspekte eine Rolle. Sie sind nicht zuletzt Folge der Verhandlungen in der Koalition zur Haushaltskonsolidierung. Laut dem Gesetzentwurf könnten so rund 170 Millionen Euro pro Jahr gespart werden. Der Bund würde hiervon 150 Millionen einbehalten. Die übrigen 20 Millionen entfielen auf die Kommunen. Ob mit dieser Summe der dortige Investitionsstau, der vom Städte- und Gemeindebund mit 166 Milliarden Euro beziffert wird, aufgelöst werden kann, darf bezweifelt werden. Keine Zweifel bestehen hingegen daran, dass Hubertus Heil nach der angeblich „größten Sozialreform zur Überwindung von Hartz IV“ daran festhält, die Existenzängste der Betroffenen zu schüren – trotz besseren Wissens des Ministers.