Der französische Sozialstaat galt einst als Insel der Glückseligkeit, unter den kapitalistischen Ländern Europas nur übertroffen von den „Volksheimen“ der Skandinavier. Nach Jahrzehnten neoliberaler „Reformen“ ist davon nicht mehr viel übrig geblieben. Jetzt rüstet Präsident Emmanuel Macron zum Generalangriff auf die letzten Reste hart erkämpfter sozialer Errungenschaften.
Die Hauptstoßrichtung geht gegen die Rente. Kernstück der geplanten „Reform“ ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters von bisher 62 auf 65 Jahre. Weitere Details sind noch nicht bekannt. Macrons Premierministerin Élisabeth Borne will das Projekt am 10. Januar vorstellen. Am 25. Januar soll das Kabinett das Vorhaben beschließen.
Eine Debatte über die Rentenreform ist offenkundig unerwünscht. Kein Wunder: Umfragen zufolge sind 80 Prozent der Franzosen gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sie wisse, dass das Vorhaben unbeliebt sei, erklärte Borne in einem Interview mit „Le Parisien“. Trotzdem wolle sie es „entschlossen“ zu Ende bringen – in einem sozialen Klima, das sich aufgrund steigender Preise und drohender Stromausfälle im Winter verschärfe. Weil die Regierung über keine Mehrheit in der Nationalversammlung und dem Senat verfügt, könnte Borne auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung zurückgreifen und die Rentenreform so an den Parlamenten vorbei dekretieren.
Sämtliche Gewerkschaftsverbände Frankreichs und die meisten Oppositionsparteien haben Kampfmaßnahmen gegen den Angriff auf die Rente angekündigt. Selbst die christlich organisierte Gewerkschaft CFDT sieht eine rote Linie überschritten. Deren Generalsekretär Laurent Berger hatte sich bislang meist empfänglich für Macrons „Reformen“ gezeigt. Schon Mitte Dezember 2022 kündigten die Gewerkschaftsverbände in einer gemeinsamen Pressemitteilung Aktionen mit Massencharakter für Januar an, sollte die Regierung bis dahin nicht von ihrem Vorhaben abrücken. Macrons erster Versuch, die Rente zu schleifen, war Ende 2019 dank wochenlanger Streiks und massiven Drucks von der Straße gescheitert. Macron sah sich gezwungen, die Reform auszusetzen, und schob die Corona-Pandemie als Begründung vor.
Die Regierung behauptet, die Rentenreform sei notwendig, um die Kaufkraft der Rentner angesichts eines Defizits in den Sozialkassen zu schützen. 2027 soll das Defizit mehr als zwölf Milliarden Euro betragen. „Wen wollen Macron und die Regierung verarschen, wo fast 160 Milliarden Euro öffentlicher Hilfen ohne Kontrolle, ohne Gegenleistung vor allem an Großkonzerne ausgeschüttet werden?“, fragt der Gewerkschaftsverband CGT in einer Pressemitteilung.
Die CGT fordert eine „gute Rente für alle“ und eine Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre. Eine Forderung, die auch die Französische Kommunistische Partei (PCF) unterstützt. Unter dem Motto „Travaillons tous, travaillons moins, travaillons mieux“ („Arbeiten wir alle, arbeiten wir weniger, arbeiten wir besser“) sammelt die Partei Unterschriften für ein Referendum gegen Macrons Vorhaben. Die Kommunisten fordern zudem eine „große nationale Debatte“ über die Rente und rechnen vor, wie die Rente ab 60 finanziert werden kann. Aus den Reihen von „La France insoumise“ (LFI) heißt es, die Reform sei „ungerecht, brutal und zwecklos“. LfI ruft zusammen mit knapp einem Dutzend Jugendverbänden zum „Marsch für unsere Renten“ am 21. Januar in Paris auf. Mobilisiert wird dafür landesweit.
Neben dem Angriff auf die Rente hat Macron in den letzten Wochen eine Reihe weiterer asozialer Schweinereien angekündigt. Besonders eilig ist ihm die „Reform“ der Erwerbslosenversicherung. Ab dem 1. Februar soll die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld um 25 Prozent gekürzt werden. Wenn die offizielle Arbeitslosenquote unter 6 Prozent liegt, soll die Bezugsdauer gar 40 Prozent weniger als heute betragen. Die Grundsicherung „Revenu de solidarité active“ (RSA) will Macron „versuchsweise“ in einigen Regionen an 15 bis 20 Stunden wöchentlicher Zwangsarbeit knüpfen. Damit sich der Nachwuchs gleich an die harte Kandare gewöhnt, schlägt Macron zudem noch eine „Ausbildungsreform“ vor. Die soll längere Praktika mit kürzeren Unterrichtszeiten verbinden.
Viel Zündstoff also, den gallischen Widerstandsgeist anzufachen.