Herr Krenz, Sie sind damit verhaftet“, erklärte am Morgen des 25. August 1997 der Vorsitzende Richter Jürgen Hoch im Sitzungssaal 500 des Berliner Kriminalgerichts an die Adresse des Hauptangeklagten. Sechseinhalb Jahre Freiheitsentzug lautete das Urteil gegen den letzten Generalsekretär der SED. Egon Krenz ging für Jahre in Haft, Richter Hoch machte Karriere. 1998 stieg er zum Vorsitzenden einer Berufungskammer auf, ab 2003 leitete er das Schwurgericht, 2007 stand die Beförderung zum Kammergericht an, 2016 wurde er Bundesrichter in Karlsruhe. Seit Anfang des Jahres steht er der neugeschaffenen sechsköpfigen Bundesbehörde „Unabhängiger Kontrollrat“ (UKRat) vor. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 19. Mai 2020 dem BND ins Stammbuch geschrieben hatte, dass auch für die Auslandsaufklärung das Grundgesetz gelte, bekam das „gerichtsähnliche Gremium“ die Aufgabe, einzelne vom BND beabsichtigte Aufklärungsmaßnahmen, zum Beispiel den Einsatz von V-Leuten des Dienstes in verdächtig-verfassungsfeindlichem Umfeld, vorab zu prüfen.
Wie es um die Unabhängigkeit von Ex-Richter Hoch und seinen Kollegen bestellt ist, kann man dem Organigramm des Bundeskanzleramts entnehmen: Der UKRat ist dort der „Fachaufsicht“ des von Regierungsdirektorin Kölling geleiteten Referats 705 („Recht der Nachrichtendienste“) unterstellt. Im Herbst kommt auf den UKRat weitere Arbeit zu: Nachdem am 26. Mai dieses Jahres das BVerfG im Bayerischen Verfassungsschutzgesetz 16 verschiedene Regelungen für „mit der Verfassung unvereinbar“ erklärt hatte, stellte es nicht etwa die Nichtigkeit des gesamten Gesetzes fest, sondern gab mit wohlwollender Geste dem Gesetzgeber bis zum 31. Juli des kommenden Jahres Zeit, die verfassungsrechtlichen Beanstandungen aufzuarbeiten. Bisher mag der juristische Laie gedacht haben, staatliches Handeln sei entweder verfassungsgemäß oder verfassungswidrig. Jetzt lernt er, ein Gesetz kann auch „unvereinbar“ mit der Verfassung sein und gilt dann eben so lange weiter, bis sein Urheber es korrigiert hat.
Warum diese Großzügigkeit?: „Angesichts der großen Bedeutung eines wirksamen Verfassungsschutzes für den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat ist unter diesen Umständen ihre vorübergehende Fortgeltung eher hinzunehmen“, liest man im Karlsruher Urteil. Was lief die letzten Jahre bei den Geheimdiensten falsch? Zu dieser Frage hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags zum 31. Mai dieses Jahres eine 17-seitige Auflistung all jener fehlerhaften Tatbestände im Bundesverfassungsschutzgesetz (BverfSchG) und im Gesetz über den militärischen Abschirmdienst (MADG) vorgelegt, die die gleichen Fehler und Lücken aufweisen, die das BVerfG beim bayerischen Gesetz jüngst bemängelte. Die letzte Reform des BverfschG, des MADG und des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst (BNDG) datiert auf den 5. Juli 2021. Nun müssen diese drei Gesetze sowie die 16 Landesverfassungsschutzgesetze wiederum in die Innenausschüsse zur nächsten Reparatur.
Da in Regierungskreisen bereits von „der größten Reform in der Geschichte“ der Geheimdienste gesprochen wird, ist zu befürchten, dass bei dieser Gelegenheit auch Vereinfachungen des Datenaustausches zwischen Geheimdiensten und Polizei eingeführt werden, die nicht auf der Agenda des BVerfG standen. Obgleich die Eingangskontrolle beim Einsatz von V-Leuten des Verfassungsschutzes durch den quasi hausinternen UKRat unter seinem Vorsitzenden Hoch sicherlich nicht allzu tief in die Arbeit der Schlapphüte eingreifen wird, ist selbst das dem Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer (SPD) schon zu viel: Kontrolle bringe keinen „Mehrwert“ für den Verfassungsschutz und erzeuge ein ins „Gesetz geschriebenes generelles Misstrauen gegen die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Am Ende hätte man „mehr Kontrolleure als eigentliche Beschaffer“.
Kramer kann indes beruhigt sein. So weit wird es nicht kommen und auch Ex-Richter Hoch bekommt in Zukunft die Wahrheit allenfalls bröckchenweise. Das Zauberwort heißt Quellenschutz: Informationen zu einer V-Person oder ihrem geplanten Einsatz, die im weitesten Sinne Rückschlüsse auf ihre Identität zulassen, bleiben bei geheimdienstlich relevanten Sachverhalten wegen „Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte verdeckt handelnder Personen“ ein Geheimnis der Dienstelle, wie es der 2. Senat des BVerfG am 13. Juni 2017 entschied.