Still ruht der EU-See, aber unter der Oberfläche ist allerhand los. Die Raubfische sind sich uneins. Am Montag waren die kleineren Viecher ins Hauptquartier des Großhechtes, ins deutsche Bundeskanzleramt, eingeladen. Das wusch sich die Flossen in Unschuld und teilte mit: „Am Montagabend wird der Bundeskanzler auf Einladung des Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel an einem Abendessen teilnehmen. Das Treffen findet im Bundeskanzleramt ab etwa 19.25 Uhr statt.“ Zweck des Treffens demnach: „Aufbauend auf dem Austausch beim informellen Europäischen Rat in Granada möchte ER-Präsident Michel einen informellen Austausch in kleineren Gruppen zur Strategischen Agenda ermöglichen.“
Das Stichwort Granada gibt einen Fingerzeig: Am 6. Oktober hatte Michel es dort verbockt, Polen und Ungarn nach EU-Methode zur Zustimmung für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu pressen. Zur Erinnerung: Ungarn und Polen blockierten damals die gemeinsame Erklärung zur Migration, weil Orbán mit der gesamten Ukraine-Hilfe unzufrieden war. Er formulierte dort, Brüssel wolle Kiew „bedingungslos Kriegsgeld“ geben. „Statt eines Waffenstillstands wollen sie Waffenlieferungen, statt Frieden wollen sie fortgesetztes Töten unterstützen.“ Ungarn werde einer „unüberlegten“ Aufstockung des EU-Haushalts daher nicht zustimmen. Olaf Scholz schlug noch am selben Tag zurück und kündigte an, dass bei EU-Erweiterungen heutige Nettoempfänger sich darauf einstellen müssten, dass sie „dann zur Finanzierung auch von Wachstumsprozessen in den Beitrittsländern mit beitragen müssen“. Was den Ungarn wiederum fragen ließ, ob das die französischen Bauern wüssten.
Nach der Niederlage der PiS bei den Parlamentswahlen in Polen am 15. Oktober meldet „FAZ“-Korrespondent Thomas Gutschker Freude bei den EU-Chefs über den wahrscheinlich nächsten polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk: „Der prognostizierte Wahlsieger kann mit sehr viel Geld aus Brüssel rechnen, das im Dauerkonflikt mit der PiS-Regierung eingefroren wurde – insgesamt fast hundert Milliarden Euro an Zuschüssen. Ungemütlich könnte es dagegen für Ungarn werden, das dann in Rechtsstaatsfragen ziemlich isoliert wäre.“ Denn Sanktionen gegen einen EU-Mitgliedstaat müssen einstimmig, aber ohne das betroffene Land beschlossen werden. Da halfen sich bisher PiS-Polen und Orbán-Ungarn gegenseitig.
Beim regulären EU-Gipfel am 26. und 27. Oktober in Brüssel bewegte sich der „Diktator“ dennoch keinen Millimeter. Sein Ass im Ärmel: Beschlüsse über Beitrittsverhandlungen müssen einstimmig gefasst werden. Auf dem nächsten EU-Gipfel im Dezember soll’s für die Ukraine geschehen und Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte nach einem Besuch in Kiew am 8. November wärmstens ein Ja empfohlen. Orbáns Antwort kam am 10. November übers staatliche Radio, wie die FAZ auf Seite 1 am folgenden Tag meldete: Er halte die Ukraine nicht reif für Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft. Die sei noch sehr weit entfernt. Über ein Veto beim Dezember-EU-Gipfel sagte er nichts. Deutlicher war sein Kanzleramtsminister Gergely Gulyás bereits am 9. November auf der Regierungspressekonferenz in Budapest geworden. Er widersprach von der Leyen einfach und erklärte, dass „die Ukraine die Bedingungen für die EU-Verhandlungen nicht erfüllt und auch vor dem Krieg nicht erfüllt hat, ob es nun um die Zusagen in Bezug auf die ethnischen Minderheiten oder die Kopenhagener Kriterien oder die Korruptionssituation geht“. Überhaupt sollten bereits laufende Erweiterungsprozesse Vorrang haben. Orbáns Regierung will außerdem zur Ukrainepolitik eine Volksbefragung durchführen. Am Montag in Berlin sah sich Orbán dann neben EU-Abendbrotdirektor Michel einem Trupp aus Österreichs Kanzler Karl Nehammer, Belgiens Premierminister Alexander de Croo, Zyperns Präsident Nikos Christodoulides und Litauens Präsident Gitanas Nauséda plus Scholz gegenüber. Michel hatte sich fürs gemeinsame Essen damit vorbereitet, dass er deutsche Überlegungen zur massiven Aufstockung der Militärhilfe für Kiew als Vorbild für andere EU-Staaten lobte. Er prahlte bei einer Veranstaltung der „Süddeutschen Zeitung“ in Berlin: „Insgesamt haben wir bereits 82 Milliarden Euro für die Ukraine mobilisiert. Das ist mehr als die Vereinigten Staaten.“
Wie das und das Abendessen bei Orbán ankamen, der als Muslimhasser Israels Abschlachtkrieg in Gaza wärmstens befürwortet, teilte das Kanzleramt nicht mit. Das große Fressen findet später statt.