Am vergangenen Samstag wurde erstmals der von „junge Welt“ und „Melodie und Rhythmus“ ausgelobte Rosa-Luxemburg-Preis verliehen. Preisträger war der Schauspieler Rolf Becker. In einer bewegenden Veranstaltung im Berliner Kino Babylon wurde Rolf Becker mit einem vielfältigen Programm geehrt. Zu Wort kamen unter anderem Moshe Zuckermann, Antje Kosemund, Mumia Abu Jamal, Patrik Köbele, Christian Klar, Rolf Beckers Familie und Aktivisten aus Griechenland. Einige sprachen live im Babylon, andere hatten Videogrüße geschickt oder waren zugeschaltet. Auch musikalisch hatten sich die Veranstalter nicht Lumpen lassen: Rebers & Band spielten Lieder von Franz Josef Degenhardt, Gerhard Folkerts und Julia Schilinski Musik von Mikis Theodorakis, den Abschluss zu Ehren seines Vaters machte Ben Becker mit Band.
Wir dokumentieren hier die Laudatio der Gewerkschafterin Ulrike Eifler.
Als ich vor einigen Wochen gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, am heutigen Tag die Laudatio zu halten, da habe ich keine Sekunde gezögert. Denn die Idee, Rolf für sein jahrzehntelanges politisches Wirken mit einem Preis auszuzeichnen, der den Namen Rosa Luxemburgs trägt, hat mir sofort gefallen. Denn mit Rolf ehren wir einen Menschen, dessen Leben bis heute geprägt ist von dem unermüdlichen Streben nach Gerechtigkeit und Frieden.
Der Rosa-Luxemburg-Preis ist ein Preis, der von der „jungen Welt“ und „Melodie & Rhythmus“ ausgelobt wird, um in einer Zeit wachsender Kriegsgefahr den Scheinwerfer auf diejenigen zu richten, die sich mutig in den Wind stellen und unbeugsam ihre Stimme gegen das neue Säbelrasseln erheben. In einer Zeit, in der sich Politiker über die friedensverwöhnten Generationen beschweren, ganz so als sei es ein unverdientes Privileg, ohne Bombenterror und Kriegsangst aufzuwachsen; in einer Zeit, in der 16-jährige Schüler auf Schnuppercamps der Bundeswehr für den Dienst an der Waffe begeistert werden; in einer Zeit, in der die Medien stolz verkünden, dass die Zahl minderjähriger Rekruten nirgendwo so schnell steige wie in Deutschland; in einer Zeit schließlich, in der uns Russophobie, Nationalismus, Hass und Kriegsbesoffenheit eine ganze Generation kluger, emphatischer, träumender und sensibler junger Menschen zu verderben droht – in einer solchen Zeit ist die Bedeutung eines Preises, der die Friedenserhaltung in den Mittelpunkt stellt, von kaum zu überschätzendem Wert.
Als wortgewaltiger Redner, der seine Argumente mit dem klaren Blick eines Marxisten, mit der Leidenschaft eines Gewerkschafters und mit der Sensibilität eines Kulturschaffenden vorzutragen weiß, ist Rolf seit vielen Jahrzehnten ein gern gesehener Gast auf Ostermärschen, Gedenkveranstaltungen und Gewerkschaftskonferenzen. Er ist es auch deshalb, weil er bereitwillig seine Stimme dort erhebt, wo es ihm notwendig erscheint.
Unvergessen sind die gemeinsamen Auftritte von Rolf und Esther Bejerano. „Wir haben das Schweigen nach 1945 erlebt“, sagten sie bei diesen Auftritten. „Wir haben erlebt wie Naziverbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell, die Nazis waren gar nicht weg“. Dass wir heute, wenn wir im Zusammenhang mit der Zeit des Faschismus über Verbrechen reden, über Massenerschießungen, Konzentrationslager, Antisemitismus, industriellen Massenmord, Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft, haben wir Menschen wie Rolf und Esther zu verdanken, die nicht zuließen, dass nach zwei begonnene Weltkriegen stillschweigend wieder zur Tagesordnung übergegangen wurde und die die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis wachhielten. Und deshalb sollten wir nicht vergessen: Der kritische Blick insbesondere auf diesen Teil der Geschichte, der wurde uns nicht geschenkt, den haben gemeinsam über Jahrzehnte erkämpft.
Geschehenes Unrecht nicht einfach hinnehmen zu wollen, nicht einfach hinnehmen zu können, das war es auch, was Rolf dazu veranlasste, den zu Unrecht einsitzenden Journalisten und Bürgerrechtler Mumia Abu Jamal im US-amerikanischen Todestrakt zu besuchen. Und die Empathie auch mit denjenigen von uns, die politisch irrten und die dafür eine lange Haftzeit im Gefängnis verbüßten, veranlasste Rolf dazu, über den gewerkschaftlichen Arbeitskreis „Politische Gefangene“ Kontakt mit Christian Klar aufzunehmen und sich beim Bundespräsidenten für dessen Begnadigung einzusetzen.
Unvergessen ist aber vor allem Rolfs Unerschrockenheit, sich im Nahost-Konflikt klar zu positionieren. Viele duckten sich weg in den letzten Jahren, viele schwiegen, aus Angst, als Antisemiten diffamiert zu werden. Rolf hat nicht geschwiegen, sondern sich stets für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern ausgesprochen, für ein Ende von Siedlung und Besatzung, für eine einvernehmliche Nutzung von Wasser und Land. Dass es dafür nicht immer von allen Seiten Applaus gab, solltest du im Rückblick als Ritterschlag nehmen – denn manchmal sind die Pfiffe und die Buhrufe derjenigen, die auf der anderen, auf der gegnerischen Seite stehen, mehr Ausweis für die eigene Geradlinigkeit als der Applaus aus den eigenen Reihen.
Rolf und ich lernten uns schließlich persönlich kennen, als wir auf dem Höhepunkte der Eurokrise als Teil einer gewerkschaftlichen Soligruppe Jahr für Jahr nach Griechenland flogen. Unser Ziel war es, ein Zeichen gegen die Kürzungsdiktate zu setzen, die im übrigen so weit gingen, dass sie sogar gegen die ILO-Kernarbeitsnormen verstießen. Wir wollten unsere griechischen Kolleginnen und Kollegen in Ihrem Widerstand unterstützen, und wir wollten ihre Geschichten mit zurück nach Deutschland nehmen und dort weitererzählen.
Deshalb besuchten wir das Solidaritätsnetzwerk „Solidarity for all“. Wir sprachen mit den Kollegen des geschlossenen Rundfunksenders ERT. Wir tauschten uns aus mit den ehrenamtlichen Ärzten und Pflegekräften in den Solidaritätskliniken. Wir waren unter Freunden im Arbeitslosenzentrum in Perama. Wir gewannen einen Eindruck von den gestrandeten Geflüchtetem, die in bunten Zeltstädten im Hafen von Piräus ausharrten. Wir legten Blumen nieder an der Stelle, an der der Musiker Pavlos Fyssas von den Schlägern der faschistischen Chrysi Avgi ermordet wurde. Und in Distomo gedachten wir der Opfer des Massakers, das die deutsche Wehrmacht dort 1944 an Zivilisten verübt hatte. Rolf hatte an jedem dieser Orte mahnende, nachdenkliche, einordnende und immer auch irgendwie aufmunternde Worte parat, und häufig schloss er seinen Redebeitrag mit einem Zitat von Bert Brecht, Thomas Mann oder Janis Ritsos.
Als im Januar 2015 Syriza die Wahl gewann, da waren auch wir voller Hoffnung. Wir feierten den Moment, in dem Yanis Varoufakis Eurogruppenchef Dijsselbloem aus dem Land komplimentierte, und wir litten, als es trotz des OXI-Referendums gelang, die stolze griechische Widerstandsbewegung in die Knie zu zwingen.
Der berührendste Moment aber ereignete sich schließlich im September 2015. Rolf hatte ein halbes Jahr zuvor seinen 80. Geburtstag gefeiert und statt um Geschenke um Spenden für die Griechenlandsolidarität gebeten. Dabei kam ein hoher vierstelliger Betrag zusammen, den Rolf unter anderem dem Arbeitslosenzentrum in Perama weiterleitete. In Perama, einem Vorort von Piräus, betrug die Arbeitslosenquote auf dem Höhepunkt der Spardiktate 90 Prozent. Die Menschen organisierten sich im Arbeitslosenzentrum und veranstalteten Nachbarschaftsversammlungen, um die bleierne Ohnmacht aufzubrechen. Gegen die staatliche Entwürdigung stellten sie die kollektive Selbstorganisation, gegen den Hunger gemeinsame Mahlzeiten, und als die Regierung denjenigen den Strom abdrehte, die ihre Steuern nicht mehr bezahlen konnten, sorgte das Arbeitslosenzentrum – nicht ganz legal, wenn ich es richtig in Erinnerung habe – trotzig dafür, dass tausende Haushalte wieder ans Stromnetz angeschlossen wurden und die Menschen ihre Wohnungen beheizen konnten.
In dem Jahr nun, in dem Rolf seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte, wurden wir wie immer sehr herzlich in Perama willkommen geheißen, wir tauschten uns aus und feierten ausgelassen miteinander. Als plötzlich das Licht ausging, kam jemand mit einer Torte herein, auf der zumindest in meiner verklärten Erinnerung 80 Kerzen brannten. Es folgte eine der herzlichsten Geburtstagsgratulationen, der ich je beigewohnt habe. Dabei erfuhren wir, dass das Geld, das Rolf an das Arbeitslosenzentrum weitergegeben hatte, nicht für die Stadtteilarbeit aufgewendet wurde. Nein, die Genossen erzählten uns, dass sie davon eine mobile Küche gekauft hatten, um einmal in der Woche in die Zeltstädte von Piräus zu fahren und die gestrandeten Afghanen, Syrer und Irakis mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen. Ich darf verraten, dass dieser zärtliche und anrührende, dieser große Moment selbstverständlicher Solidarität zwischen den Völkern nicht nur Rolf, sondern jeden Einzelnen von uns zu Tränen rührte.
Ein besonderes Herzensanliegen ist Rolf aber bis heute der Kampf für den Frieden. „Ohne die persönlichen Kriegserfahrungen“, erzählte er mir vor einigen Monaten, „wäre ich vermutlich heute so gutgläubig wie viele unter uns, die den in die Irre führenden Erklärungen aus Regierungskreisen und in den Medien vertrauen“, und er ergänzte, es seien Erklärungen, die ihn vielfach an die Propaganda der letzten Kriegsjahre erinnerten.
Doch es sind nicht nur die eigenen Kriegserfahrungen, die ihn antreiben, sich rastlos für den Frieden zu engagieren, sondern auch eine tief sitzende Klassensolidarität. Als aktiver Gewerkschafter weiss Rolf, wer auf den Schlachtfeldern der Geschichte gekämpft und wer dies nicht getan hatte. Wenn wir heute deutsche Städte besuchen, dann finden wir in jedem Stadtzentrum, egal wie groß oder klein, einen Gedenkstein mit den Namen der im Ersten oder Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten dieser Stadt. Und wenn wir die Namen auf den Steinen lesen, dann sind das unsere Namen, die Namen von Tischlern, Metzgern, Industriearbeitern. Es sind nicht die Namen der Kriegsminister, der Rüstungsfabrikanten und Oligarchen, nein, es sind unsere Namen. Und wie damals wollen sie uns auch heute wieder in ihre Kriege schicken, auf ihren Schlachtfeldern kämpfen und sterben lassen, für ihre Interessen, für ihre Profite. Von Mark Twain stammt der Satz, Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Sich heute in die Friedensbewegung einzureihen, um den kommenden großen Krieg zu verhindern, heißt Einfluss nehmen zu wollen auf den Verlauf der Geschichte, auf ihr Reimschema, auf ihr Versmaß.
Lieber Rolf, liebe Anwesende, ich möchte am Ende meiner Laudatio nicht unerwähnt lassen, dass Rolf ebenso wie die Namensgeberin dieses Preises, Rosa Luxemburg, stets mit wachen Augen auf die von Krise, Krieg und Ungerechtigkeit gebeutelte Gesellschaft geschaut hat. Und genauso wie Rosa Luxemburg ging es auch Rolf nie nur um die eine Ungerechtigkeit, um den einen Krieg, die eine Krisenauswirkung – sondern es ging immer um das große Ganze. Wieder und wieder sagte er mit Brecht: „Kampf um den Frieden ist Kampf gegen den Kapitalismus“.
„Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat“. Diesen Satz hat uns Rosa Luxemburg mitgegeben. Rolf hat das praktiziert. Er hat das als wahr Erkannte ausgesprochen – ohne Rücksicht auf persönliche Konsequenzen. Die Stärke dafür zog er aus der Erkenntnis, dass das Grundübel von Faschismus, Krieg und unschuldig in der Todeszelle sitzenden Journalisten eine Gesellschaft ist, die die Profite der Wenigen höher stellt als ein Leben in Würde für die Mehrheit. Seine Zuversicht zog er aus der Vision, nach der wir alle eines Tages frei und gleich miteinander leben könnten, aber auch aus der Betrachtung der Widersprüche auf dem Weg dort hin. Denn dort, wo Krise, Krieg und Ungerechtigkeit das Leben der Menschen prägen, da ist nicht etwa alles verloren und hoffnungslos. Sondern da wächst auch die Bereitschaft zum Widerspruch. Dieser Widerspruch aber entsteht nicht von allein. Es braucht immer jemanden, der ihn zuerst formuliert und anderen dadurch ein Beispiel gibt. Dies hat Rolf sein Leben lang getan.
Würden wir Rolf fragen, ob es einen Preis bräuchte, um sein Engagement auszuzeichnen, er würde es mit der freundlichen Zugewandtheit und der Bescheidenheit, die wir an ihm mögen, verneinen. Und vermutlich hätte er dazu auch das passende Brecht-Zitat parat. Ich persönlich finde, es ist eine lang überfällige Geste für einen Freund, für unseren Freund, der uns neun Jahrzehnte lang ein Beispiel dafür gab, wie leicht es doch eigentlich ist, gerade zu stehen und mit durchgedrücktem Rücken Nein zu sagen, wenn sich die Dinge in die falsche Richtung entwickeln.
Lieber Rolf, liebe Anwesende, ich möchte schließen mit einer nachdenklichen Bilanz, die Rolf vor einigen Jahren auf einem Ostermarsch zog: „Seit mit bewusst wurde, was ich als Kind während des 2. Weltkrieges erlebt habe, war mein Anliegen und bleibt es, dazu beizutragen, dass sich Vergleichbares nicht noch einmal ereignen kann. Ich bin allerdings wie viele meiner Generation mit diesem Anliegen gescheitert: Wir haben die Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht verhindern können, nicht die Notstandsgesetze, nicht das Niederschlagen der Schüler- und Studentenbewegung von 1968, nicht die gegen die Sowjetunion gerichtete Nachrüstung 1983 und auch nicht die Kriegsbeteiligung Deutschlands beim NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999.“
Ich möchte darauf erwidern: Wer seinen Anteil daran hatte, dass in den 80er Jahren eine Friedensbewegung entstehen konnte, die so stark war, dass sie weit in die Gesellschaft hineinreichte, der ist nicht gescheitert. Die Friedensbewegung der 80er Jahre – das waren Lichterketten, die Städte verbanden, das waren Soldaten in Uniform auf Friedensdemonstrationen, das waren Konversionskämpfe in Rüstungsbetrieben, das waren Gewerkschafter, die sich trotzig dem Verbot ihrer Organisation widersetzten und ihre Fahnen mit auf die Friedenskundgebungen nahmen. Diese Friedensbewegung macht uns heute Mut. Und sie gibt uns ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, die Menschen für den Traum vom Frieden zu begeistern und zu mobilisieren. Wir waren nicht mit allem erfolgreich, das mag sein. Aber der Grundstein ist gelegt, und es wird Zeit, dass wir es endlich werden. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, lieber Rolf, zum Rosa-Luxemburg-Preis 2025. Er geht sehr verdient an dich.