Europa-Programm des deutschen Imperialismus

Unerlässliche Nation

Es geht mal wieder ums Ganze, um Weltmachtstatus und Führung, ist den Ansprachen der Kanzlerin zu entnehmen. An Superlativen spart sie nicht. In ihrer Regierungserklärung zur deutschen EU-Präsidentschaft im Bundestag sagte sie am 18. Juni, die neueste Krise sei für die EU zu „der größten Herausforderung ihrer Geschichte“ geworden. Kein Land könne sie „allein und isoliert bestehen“. Um was es geht, verdeutlichte Angela Merkel im Vokabular von Macht und Kräfteverhältnis, das sie eher selten benutzt: „Wie Europa im Vergleich zu anderen Regionen der Welt diese Krisen bewältigt, das wird über den Wohlstand der europäischen Bürgerinnen und Bürger entscheiden und über Europas Rolle in der Welt.“ Die Bundesrepublik ernannte sie für diesen Zweck nach US-Vorbild gleichsam zur „unerlässlichen Nation“: „Natürlich braucht ein starkes Europa ein starkes Deutschland.“

Arnold Schölzel
Arnold Schölzel

Solch Klartext fehlte in ihrer Ansprache im EU-Parlament am 8. Juli, Diktion und Zielstellung aber blieben. Sie halte ihre Rede „vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der EU“. Die werde, wenn das deutsche Programm verwirklicht werde, „auch in einer sich rasant verändernden globalen Ordnung souverän und verantwortungsvoll ihre eigene Rolle einnehmen können“.

Die Worte „souverän“ und „Souveränität“ fielen noch öfter. Aus dem „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen“ vor drei Jahren im Bierzelt von München-Trudering nach dem ersten G7-Gipfel mit Donald Trump ist 2020 ein Programm geworden: Eine Neugestaltung der EU unter deutscher Führung. Dann, so Angela Merkel am 8. Juli in Brüssel, sei die EU „zu Großem fähig“, eine „starke“ Außen- und Sicherheitspolitik eingeschlossen. Dazu soll erneut das bisher geltende Einstimmigkeitsprinzip im Kreis der 27 Mitgliedsstaaten überprüft werden – ein Lieblingsvorhaben der verbliebenen großen vier in der EU – Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien.

Was passiert, wenn jedes Land in geheimer Abstimmung eine Stimme hat, zeigte die Wahl eines neuen Chefs der Euro-Gruppe am vergangenen Donnerstag: Nicht die von Berlin und Paris gewünschte spanische Wirtschaftsministerin Nadia Calvino setzte sich durch, sondern der irische Finanzminister Paschal Donohoe, aus einer „Steueroase in Europa“, wie der deutsche EU-Abgeordnete Sven Giegold (Die Grünen) verächtlich ätzte. Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der die Wahl geleitet hatte, vergaß glatt bei Bekanntgabe des Ergebnisses, dem Gewinner zu gratulieren. Nordeuropäer einschließlich der baltischen Staaten hatten den Großen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Im Moment spielt die Euro-Gruppe, kommentierte die „FAZ“ säuerlich, eine untergeordnete Rolle. Es gehe gerade um Größeres als eine Währungskrise – auch wenn die nächste möglicherweise vor der Tür steht. Wieder einmal – wie 1989/1990 Helmut Kohl – sieht das politische Personal des deutschen Imperialismus eine Gelegenheit, einen Zipfel des „Mantels der Geschichte“ zu erhaschen. Wolfgang Schäuble, der 1994 zusammen mit dem CDU-Außenpolitiker Karl Lahmers die Zwei-Geschwindigkeits-EU erfand, meldet sich am 6. Juli mit einem ähnlichen Grundsatzpapier wie damals in der „FAZ“ zu Wort. Tenor: Bundesregierung und Bundestag müssten nun in der Krise „ihre besondere Führungsverantwortung wahrnehmen“ und dafür sorgen, dass sich die EU „auch künftig im globalen Wettbewerb“ behaupten könne.

US-Kommentator Frederick Kempe brachte es auf CNBC auf den Punkt: China und die USA werden aus den Turbulenzen von 2020 mit „intakten Grenzen und intakten politischen Systemen hervorgehen“. Merkel habe begriffen, dass die Krise für die EU „existenziellere Bedeutung“ als für die beiden anderen habe.

Noch sind die Konturen des neuen Europa-Programms des deutschen Imperialismus nicht scharf umrissen, der Führungsanspruch aber ist offen erklärt.

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"Unerlässliche Nation", UZ vom 17. Juli 2020



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