Seinen ersten Langfilm machte der belgische Regisseur Joachim Lafosse bereits mit 29 Jahren, inzwischen ist das Dutzend fast voll und so ziemlich jeder davon weist ihn aus als Talent mit unverkennbar eigener Handschrift. Schon die Titel seiner Filme („Folie privée“, „L’économie du couple“ et cetera) deuten hin auf Themen, die sich um familiäres Zusammenleben und mehr noch um dessen Störungen und Spannungen drehen. So auch in „Die Ruhelosen“ („Les intranquilles“), der 2021 im Wettbewerb von Cannes uraufgeführt wurde und nun die deutschen Kinos erreicht.
So gar nicht ruhelos die ersten Bilder: Leila, eine Frau mittleren Alters, liegt am Strand und beobachtet von Ferne ihren Mann Damien, wie er mit einem von ihrem Sohn Amine gesteuerten Motorboot durch die Wellen kreuzt. Dass der Dreikäsehoch kaum zehn ist, irritiert den Zuschauer erst, als sein Vater unvermittelt ins Wasser springt. Er überlässt Amine das Boot und will allein an Land schwimmen. Doch noch bevor uns um beide bange werden kann, zeigt Lafosse das Paar im verliebten Tanz. Alles ist gut ausgegangen, aber das Thema ist gesetzt: Damien ist ein sehr exzentrischer Maler mit bipolaren Störungen, was die als Restauratorin arbeitende Leila immer häufiger vor Probleme stellt und bald auch Damiens geplante große Ausstellung gefährdet.
Entsprechend turbulent geht es weiter und es scheint, als wären auch Lafosses Stammkameramann Jean-François Hensgens, die Cutterin Marie-Hélène Dozo und seine sechs (!) Koautoren von Damiens Krankheit befallen. Um zwei Uhr früh lärmt Damien in der Küche, weil die Reparatur eines Fahrrads keinen Aufschub duldet. In Amines Schulklasse übernimmt Damien die Regie und führt sie an den See. Das Chaos in der Küche kann Leila kaum noch ordnen und als auch noch die geplante Ausstellung platzt, stürzt sich Damien nur umso wilder in sein Action-Painting. Am Ende kommt, was kommen muss: Leila will die Trennung und droht, mit Amine auszuziehen. Für Damien bleibt nur der Umzug zu seinem alten Vater, der seinen Lebensstil noch nie mochte und ihm wegen eines Kredits gram ist …
Nach eigener Aussage haben die bipolaren Störungen seines eigenen Vaters den Regisseur zu seinem Film angeregt – was eine Erklärung für die vielen exzessiven Szenen wäre, die er seinem „Helden“ (Damien Bonnard) vor allem in der ersten Filmhälfte ins Drehbuch schreibt. Doch bevor der Film seine Dynamik zu verlieren droht, verschiebt sich – dem Plural des Titels Sinn gebend – sein Interesse weg von dem bipolaren „Fall“ Damien und hin zu denen, die dessen Folgen am meisten zu tragen haben, hier also Leila, gespielt von der überragenden Leila Bekhti.
Von der ersten Szene am Strand, in der man hinter ihrem gelassenen Ausruhen ihre Sorgen um ihre Familie höchstens erahnen kann, entwickelt Bekhti ihre Figur nach und nach zu einer resoluten, mit ihren Problemen wachsenden Frau, die ihre Familie und ihre Liebe zu Damien durch alle Unwägbarkeiten seiner Krankheit hinweg bewahren will. Man darf vermuten, dass diese Verschiebung der einzige Ausweg aus der Abfolge von Episoden und somit das rettende Element für Lafosses Film geworden ist. Denn der lebt ganz und gar von der Präsenz seiner beiden Hauptdarsteller. Wie zur Bestätigung erklärt der Regisseur im Interview: „Als Leila und Damien Bonnard an Bord kamen, fing alles an sich zusammenzufügen.“ Auch der vieldeutige Filmschluss findet hier wohl seine Erklärung: „Während der Proben habe ich den SchauspielerInnen nie verheimlicht, dass ich noch nicht weiß, wie der Film enden wird. … Ich wusste es einfach nicht bis zum letzten Tag und der letzten Stunde.“
Die Ruhelosen
Regie: Joachim Lafosse
Unter anderem mit: Leïla Bekhti, Damien Bonnard, Gabriel Merz Chammah
Im Kino