Ein Streitgespräch vor zwanzig Jahren – aktuell wie vor 20 Jahren

Unendliche Wende

Von Rüdiger Bernhardt

Hermann Kant/

Gerhard Zwerenz

Unendliche Wende

Ein Streitgespräch

Querfurt/Leipzig

Dingsda-Verlag 1998

100 S.

Viele Menschen sorgen sich um die gegenwärtige Gesprächs- und Diskussionskultur und die zunehmenden Hass-Kommentare, die nicht nur das Gesprächsklima vergiften, sondern auch die Schwelle für Aggressionen sinken lassen. Da ist es gut und orientierend, sich an Beispiele zu erinnern, in denen politische Gegner respektvoll und argumentativ miteinander umgegangen sind und dazu etwas zu sagen hatten. Eine dieser Diskussionen fand vor zwanzig Jahren vor überfülltem Haus im Leipziger academixer-Keller statt; die Gesprächspartner waren Hermann Kant und Gerhard Zwerenz und das Ganze wurde als „Streitgespräch“ vom organisierenden Dingsda-Verlag und seinem Verleger Joachim Jahns angekündigt. Das Gespräch zwischen den beiden Schriftstellern war eine Sensation, denn beide, obwohl sich als Linke aus Ost und West verstehend, waren erbitterte Gegner.

Dass sie sich zum Gespräch trafen und es auch sachlich, sogar weitgehend zu ähnlichen Positionen führten, ist beispielhaft. Es ging nur nebenbei um Literatur, um Stephan Hermlin und Alfred Kantorowicz, um den Dingsda-Verlag und den Aufbau-Verlag, um Mäzene und Sponsoren. Hauptsächlich ging es an diesem Märztag 1997 darum, wie es denn zu betreiben sei, dass unter den veränderten Gegebenheiten „sich in Deutschland sehr viel, möglichst alles ändern solle“. Bald darauf erschien das Gespräch als Buch unter dem Titel „Unendliche Wende“ und ist heute noch so aktuell wie einst. 1997 dachte keiner, dass die Themen so brisant bleiben würden.

Die beiden Streitenden sind inzwischen verstorben: Hermann Kant (1926–2016) und Gerhard Zwerenz (1925–2015). Ihr Leben verlief bis 1956 parallel, bestimmt von Krieg, Gefangenschaft, Hoffnung auf „ein neues Deutschland“. Dann trennten sich ihre Wege im Zusammenhang mit den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins und sie wurden unversöhnliche Gegner. Sie wurden auch erfolgreiche Schriftsteller und sie hatten – Kant vor 1989 mehr als Zwerenz, Zwerenz als Bundestagsabgeordneter der Linken nach 1989 mehr als Kant – politischen Einfluss.

Die Fragen, die sie 1997 einander stellten, sind geblieben und sie sind dringlicher geworden. Vieles, was die beiden übereinstimmend als Gefahr für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa sahen, ist inzwischen Wirklichkeit geworden: die Osterweiterung der NATO, „eine Übermacht des Kapitals … unter der Überschrift ‚Globalisierung‘“, die Absage an die historische Schuld der Deutschen, die „ungeheuerliche politische Dummheit“, mit „dem Finger … auf ehemalige SED-Mitglieder oder auf Staatssicherheitsleute, einfach allgemein Richtung Osten zu zeigen“, „ähnliche Prozesse“ wie 1933 u. a.

Kant und Zwerenz standen sich seit vierzig Jahren als Gegner gegenüber; beide hatten 40 Jahre kein Wort miteinander gewechselt, zu gegensätzlich waren ihre Standpunkte, obwohl sich beide als Linke bezeichneten. 1956 war das Jahr der Trennung: Hermann Kant und Gerhard Zwerenz hatten politische Differenzen mit der SED, deren Mitglied sie beide waren; aber während Kant den schwierigen Weg ging, wegen individueller Schwierigkeiten nicht die Ziele der Gesellschaft aufzugeben und sich deshalb in seiner grundsätzlichen Haltung nicht beirren ließ, ging Zwerenz in den Westen, „musste“ diesen Weg gehen, wie er sagte.

Kant sprach es deutlich aus, er hätte das Gespräch Jahre zuvor „nicht gewollt“. Beide waren sich aber einig, dass der Druck von Kapital und Mediengesellschaft so groß ist, dass alle Kräfte gebündelt werden müssen, um der Sprachlosigkeit, die durch die Herrschaft der Medien entsteht, zu begegnen. Medien waren deshalb ein wichtiges Thema ihres Gesprächs. Es ging nicht um Presseschelte, sondern um komplexe Wahrheiten, die Kant und Zwerenz als logische Folge der Veränderungen nach 1989 erschienen und die zum gemeinsamen Handeln aufforderten, beim Zurückstellen aller individuellen Unterschiede: Es ging um eine Radikalisierung, die mindestens an die Situation um 1933 erinnerte und um eine Gefahr, die in Ost und West sich andeutete, dass die Prozesse „die Humanität, die für uns als Sozialisten das einzige Ziel sein kann, dass sie diese Humanität absolut delegitimieren und absolut auf Null hinunternivellieren“. Die beiden Schriftsteller warnten vor zwanzig Jahren davor und riefen dazu auf, „überflüssige Differenzen und Kämpfe“ zu beenden, um gegen den gemeinsamen Feind vorzugehen. Heute ist diese Gefahr um vieles größer geworden und fordert noch mehr nach Zusammenschluss der Gegenkräfte und Handlungen gegen rechts.

In diesem Streitgespräch wirkte nichts aufgesetzt, nichts intellektuell überhöht; man sprach locker und salopp miteinander. Die Situation machte es erforderlich, so verständlich wie nur möglich seine Position vor einem gemischten Publikum darzulegen. In den Zielsetzungen übereinstimmend, gab es im Prozess dorthin gravierende Unterschiede. Spätestens da kam auch die Literatur wieder ins Spiel: Zwerenz verwies auf Hermann Kants „Aufenthalt“, Kant auf das „ungeheure Werk“ „Von Abraham bis Zwerenz“, eine Anthologie, entstanden in der Absicht, gemeinsam „etwas zu machen“ (100). Sprache sei es, mit der man in sich „selbst ein Denken und Fühlen zu verändern“ bestrebt sein muss, um Vorurteile zu beseitigen.

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"Unendliche Wende", UZ vom 14. April 2017



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